Anfang Januar war es so weit: Das Buch des Jahres war gefunden. Schon bevor Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben auf Deutsch veröffentlicht wurde, kam man an dem Buch nicht mehr vorbei. Die Lobgesänge auf den Roman ließen auch mich nicht kalt, und so habe ich mich den letzten Monat durch den knapp 1.000 Seiten langen Roman gequält.
Dabei ist Ein wenig Leben nicht schwierig zu lesen. Mit ein bisschen Muße hat man es wahrscheinlich innerhalb weniger Tage durch. Allerdings hat mich – auch wenn ich manche Dinge wirklich ansprechend fand – unglaublich viel an dem Roman genervt.
Für alle, die sich nicht sicher sind, ob sie die Lesezeit investieren wollen, kommt hier also meine Übersicht über die 10 Dinge, die mich an Ein wenig Leben genervt haben.
Achtung: In der Natur der Sache liegt es, dass hier Spoiler vorkommen. Um ehrlich zu sein, der Artikel ist voller Spoiler. Ihr braucht den Roman anschließend nicht mehr zu lesen, weil ihr alles wisst. Zu meiner komplett spoilerfreien Rezension geht es hier lang >>
1. Die vielen Statisten
Ein wenig Leben handelt von vier Freunden, die sich am College kennenlernen und ihr Leben gegenseitig prägen. Außerdem handelt es von den Freunden der Freunde. Ihren Ärzten. Eltern. Tanten. Professoren. Kolleginnen und Kollegen. Entfernten Bekannten. Ehemaligen Lehrern. Nachbarn, Vermietern und den Nichten von Vermietern. Leuten, die sie auf Partys treffen. All diese Figuren haben Namen, einen Beruf und ein paar Zeilen Aufmerksamkeit, tragen aber in Wahrheit nichts zur Geschichte bei.
Denn in Wirklichkeit geht es in diesem Roman ausschließlich um Jude St. Francis, der die schlimmste vorstellbare Kindheit hinter sich hat und sein Leben lang damit kämpft, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Willem, der zunächst Judes bester Freund und dann sein Lebensgefährte ist, erhält noch am meisten Raum. Aber auch er bleibt eindimensional in seinen Bemühungen, Jude ein gutes Leben zu bereiten.
Die unzähligen anderen Figuren kommen und gehen, werden eingeführt, als wären sie wichtig und verschwinden dann wieder sang- und klanglos. Eine Schmuckdesignerin, mit der Willem ein Verhältnis hat, wird aufwendig mit Eigenheiten und Familie eingeführt und erscheint dann nie wieder. Und leider passiert dies immer wieder.
2. Judes Leidensweg
Ich fasse Judes Leidensweg, den man über das Buch hinweg Stück für Stück erfährt, hier in wenigen Sätzen zusammen. Er wurde als Kind von seiner Mutter ausgesetzt und in einem Kloster großgezogen, wo er von den Mönchen misshandelt und missbraucht wurde. Nur ein Mönch – Bruder Luke – ist nett zu ihm.
Mit ihm flieht Jude, als er sechs Jahre alt ist. Auch Bruder Luke missbraucht ihn über Jahre hinweg und manipuliert den Jungen außerdem so, dass er sich prostituiert – hundert-, wenn nicht sogar tausendfach. Als Jude beginnt, sein Trauma zu verarbeiten, indem er sich selbst gegen Wände wirft, zeigt Bruder Luke ihm eine weniger auffällige Art der Selbstverletzung: das Ritzen. Dies behält Jude nahezu sein ganzes Leben bei. Die Polizei rettet Jude aus Lukes Fängen und bringt ihn ins Heim – wo Jude von den Betreuern geschlagen und missbraucht wird.
Mit 15 flieht er aus dem Heim und muss sich, da er keinerlei Geld hat, prostituieren, um sich von Montana nach Boston durchzuschlagen. Als er an einer Geschlechtskrankheit erkrankt ist, wird er, vollkommen geschwächt, an einer Autobahnraststätte von Dr. Traylor aufgelesen, der ihn zunächst mit Antibiotika gesund pflegt und ihn dann im Keller gefangen hält, um ihn regelmäßig zu misshandeln und zu vergewaltigen.
Als Dr. Traylor genug von Jude hat, fährt er ihn mit dem Auto in den Wald. Dort inszeniert Traylor eine Art Jagd. Jude muss vor dem Auto weglaufen, bis er schließlich völlig entkräftet zusammenbricht und Dr. Traylor ihn überfährt. Hier endet (zunächst) Judes Leidensweg, da er von einer Sozialarbeiterin, die es wirklich gut mit ihm meint, unterstützt wird.
Dieses Übermaß an (sexueller und nicht-sexueller) Gewalt, die sich immer weiter steigernden Schrecken von Judes Kindheit haben bei mir das Gegenteil dessen ausgelöst, wozu sie wahrscheinlich geschrieben wurden. Je mehr ich über Judes Vergangenheit erfuhr, desto weniger berührte sie mich, desto mehr ärgerte ich mich. Denn der Aufbau des Buchs suggeriert ein „Mehr ist schlimmer“. Dabei hätte Judes Story mich nicht weniger betroffen gemacht, wenn er „nur“ ausgesetzt worden wäre, „nur“ im Kloster missbraucht oder „nur“ im Keller eines Irren gefangen gehalten. So aber wirkt es beim Lesen (die Geschichte wird in immer wieder eingewobenen, vorher bereits angedeuteten Rückblenden erzählt), dass diese Steigerung dazu dient, den Leser bei der Stange zu halten. Man weiß, man hat noch nicht alles gehört, es wird noch schlimmer. Zum eigentlichen Kern der Geschichte trägt das jedoch nichts bei, tatsächlich fühlt man sich fast zum Voyeurismus gezwungen.
3. Die nachgeschobenen Informationen
Dieser Roman ist 957 Seiten lang. Nachdem man die Hälfte gelesen hat, weiß man detailliert, wer wann in welchem Restaurant war, welche Schuhe jemand trägt und welche Künstler wie und wo leben.
Trotzdem werden bis auf die letzten Seiten noch Informationen nachgeliefert, die eigentlich viel früher hätten einfließen können. Und damit meine ich nicht die in Rückblenden erzählte Geschichte von Jude, sondern Informationen aus der Vergangenheit der Haupt- und Nebenfiguren, die einfach irgendwo passend nachgereicht werden.
Ein Beispiel: Malcolms Vater Mr. Irvine spielt gerade zu Anfang des Romans eine größere Rolle. Er ist eine Art Mentor für Jude, der bei den Irvines untergekommen ist. Dass Malcolm ihn „Der Häuptling“ genannt hat, wird irgendwann im letzten Zehntel nebenher eingeführt, dann aber auch konsequent durchgezogen.
Dies passiert leider immer wieder. Man erfährt den Roman hindurch alle möglichen Kleinigkeiten über die Figuren, und am Ende erfährt man, dass sie zu genau der Zeit, über die man bereits 600 Seiten vorher gelesen hat, noch etwas ganz anderes gemacht haben. Das wirkt auf mich so, als wäre der Autorin am Ende noch ein nettes Detail eingefallen, sie hatte aber keine Lust mehr, vorne die richtige Stelle herauszusuchen, um es sinnvoll einzubauen. Dass diese Details zum Fortgang der Geschichte nichts beitragen, macht das Ganze natürlich nicht besser.
Umgekehrt passiert das Ganze übrigens auch: Jude hat anfangs beispielsweise Schmerzattacken. Irgendwann spielt das nicht mehr so richtig eine Rolle.
4. Die Schwarz-Weiß-Malerei
Judes Jugend ist von den schlechtesten Menschen bevölkert. Es gibt niemanden, wirklich niemanden, der ihm hilft oder auch nur anerkennt, dass nicht in Ordnung ist, was ihm passiert. Jeder schlägt ihn, vergewaltigt ihn, nutzt ihn aus.
Judes Erwachsenenleben dagegen ist fast ausschließlich geprägt durch Engel. Seine Freunde lieben ihn und bringen ihm die größtmögliche Geduld entgegen. Sein ehemaliger Professor und dessen Frau adoptieren ihn. Sein Arzt – ein Privatarzt – stellt ihm nie eine Rechnung. Noch dazu sind alle wahnsinnig erfolgreich: Jude wird als Prozessanwalt reich, Willem ist ein überaus gutaussehender und erfolgreicher Schauspieler. Malcolm wird zum Star-Architekten, und selbst JB, der ca. fünf Seiten lang drogensüchtig ist, läutert schnell und kann den Erfolg durch seine Kunst dann auch wieder viel besser verkraften.
Es gibt nur einen wirklich schlechten Menschen nach Judes 16. Geburtstag, und der ist aber auch ein richtiger Fiesling. Für Jude läuft es darauf hinaus, dass er einmal mehr geschlagen und vergewaltigt wird. Dem Roman tut diese Schwarz-Weiß-Malerei überhaupt nicht gut. Die Figuren sind allesamt eindimensional und uninteressant. Nach zwei Sätzen kann man ihr gesamtes Verhalten vorhersagen.
5. Die Political Correctness
Ich glaube, ich habe noch nie einen ausgewogeneren Roman gelesen als Ein wenig Leben. Jede ethnische Herkunft und jede denkbare sexuelle Orientierung ist untergebracht, so dass ich beim Lesen des Romans den Eindruck hatte, dass hier eine Liste abgearbeitet wird. Frauen spielen in Judes Leben kaum eine Rolle, aber immerhin hat es eine Professorin ins Buch geschafft – und es stammt ja auch von einer Frau. Dass noch eine alleinerziehende Mutter, ein lesbisches Paar und ein bereits in den 1970ern erfolgreicher Afro-Amerikaner ihren Platz im Buch finden mussten, bläht die Geschichte nur unnötig auf. Auch das ist nur Füllwerk und bringt die Story keinen Millimeter voran.
6. Die künstlich erzeugte Spannung
Ein wenig Leben wechselt die Erzählung in Judes Erwachsenenleben mit Rückblenden ab. Das Ganze funktioniert nach einem schnell zu durchschauenden Schema. Die Situation in der Gegenwart spitzt sich so zu, dass Jude in irgendeiner Gefahr ist (sein Leben, seinen Freund, seinen Job zu verlieren). Diese Situation endet mit einem Cliffhanger, nach dem aber eine der Horror-Storys aus Judes Kindheit offenbart wird. Natürlich wird auch hier wieder an einer möglichst spannenden Stelle abgebrochen. Der Faden der zuvor erzählten Geschichte wird allerdings nicht sofort wieder aufgenommen, sondern man findet sich ein paar Tage, Wochen oder Monate weiter in der Zukunft, von wo aus erst nach und nach – meist aus dem Blickwinkel einer anderen Figur als vorher, der Cliffhanger aufgelöst wird.
Das ist natürlich spannend. Und es funktioniert. Allerdings nur zwei oder drei Mal, danach hat man das Muster erkannt und weiß schon, was jetzt als nächstes kommen wird. Und ab da fühlte ich mich als Leser dann nicht mehr ernstgenommen, weil die Autorin mir offensichtlich nicht zutraut, dieses Muster zu durchschauen.
7. Der Pathos
Es geht um große Gefühle in Ein wenig Leben. Um großes Leid und große Liebe. Und entsprechend groß sind die Worte, und manchmal erinnern sie mich in ihrem Pathos an Vom Winde verweht. Da wird sich tief in die Augen geschaut, geflüstert und gerne auch mal ein Satz wiederholt, wenn die Figuren miteinander reden. Das Ergebnis ist aber meistens nichts, denn ein Großteil der knapp 1.000 Seiten dreht sich genau darum.
Er verstummte und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Sag’s mir, Jude“, sagte er. „Sag mir, was es ist. Sag’s mir, und wir bringen es wieder in Ordnung.“
„Nein“, flüsterte er. „Ich kann nicht, Willem, ich kann nicht.“
8. Das Cover
Das Cover ist schon fast eine Frechheit. Jude ist als Kind und Jugendlicher sexuell missbraucht und vergewaltigt worden, in einem Ausmaß, das jede Vorstellungskraft sprengt. Er hat bleibende Verletzungen, die ihm wiederkehrende Schmerzattacken bescheren. Ganz sicher aber hat er – und das wird mehrfach thematisiert – keinerlei Freude oder Interesse an Sexualität.
Das Cover von Ein wenig Leben spielt mit der Doppeldeutigkeit zwischen Lust und Schmerz. Ein junger Mann wird in Großaufnahme mit verzerrtem Gesicht gezeigt. Es wird nicht klar, ob er Schmerzen oder sexuelle Lust empfindet. Natürlich soll man bei dem Mann an Jude denken. Dass ein Roman, in dem es zu großen Teilen um sexuellen Missbrauch geht und der eine völlig traumatisierte Hauptfigur durch ein Leben voller Schrecken jagt, damit spielt, dass der Leser denken könnte, er sieht einen Menschen beim Orgasmus, halte ich für absolut geschmacklos.
9. Unpassende und unnötige Bilder
… oder warum können zwei Kissen nicht einfach so aussehen, als hätte noch kurz zuvor jemand darauf gelegen?
Beim Lesen von Ein wenig Leben hatte ich das Gefühl, dass zum Schluss noch auf jeder Seite ein paar Bilder eingefügt wurden, ob sie nun passen oder nicht. Viele davon sind so weit entfernt von der Alltagswahrnehmung, dass sie es nicht erleichtern, sich die Szenerie vorzustellen, sondern erschweren, wie beim folgenden Absatz, indem ein Bild von JB beschrieben wird, das die Einsamkeit seiner Mutter nach dem Tod seines Vaters durch zwei benutzte Kissen zeigt.
[…] zwei Kissen auf einem Bett, beide leicht eingedrückt, so als hätte jemand die Unterseite eines Löffels durch eine Schale voll dicker Sahne gezogen […]
Andere Bilder sind einfach nur absurd – aber dafür sehr einprägsam.
[…] es fühlt sich an, als bestünde sein Herz aus etwas, das kalt und nässend ist wie Hackfleisch […]
10. Das völlige Fehlen von Figurenentwicklung
Ein Roman lebt davon, dass seine Figuren sich entwickeln, dass sie über sich hinauswachsen und der Leser sich im besten Falle mit ihnen identifizieren kann. In Ein wenig Leben entwickelt sich niemand. Jude bleibt Gefangener seiner selbst, Willem bleibt stets bemüht, ihm ein besseres Leben zu bieten. Bei Judes Vorgeschichte ist es verständlich, dass er sein Trauma nicht wirklich überwindet. Leider macht das völlige Fehlen von Entwicklung den Roman zäh und an vielen Stellen auch langweilig. Die eigentliche Story wird durch zwei Dinge vorangetrieben: Die Freundschaft zwischen Willem und Jude (dazu im nächsten Punkt mehr) und die Enthüllungen über Judes Vergangenheit.
Und was fand ich gut an Ein wenig Leben?
Neben all den Dingen, die mich an diesem Roman wirklich sehr genervt haben, gibt es einen Kern, der mich angesprochen und am Ende sogar zu Tränen gerührt hat. Dieser Kern ist die sich sehr behutsam entwickelnde Freundschaft zwischen Jude und Willem, aus der am Ende sogar Liebe entsteht. Dass Jude allen Erwartungen zum Trotz Willem überlebt, habe ich oben bewusst nicht zum Leidensweg gezählt, da hier nicht wie in Judes Kindheit ein schreckliches Ereignis das nächste jagt, sondern eine fast zarte Geschichte des Trauerns um den einen geliebten Menschen erzählt wird.
Mir ist klar, dass viele genau dies in Ein wenig Leben sehen, und ich kann nachvollziehen, dass man das Buch in dieser Hinsicht gut findet. Drumherum ist aus meiner Sicht aber so vieles, was davon ablenkt und – das Gefühl lässt mich nicht los – für Aufmerksamkeit sorgen soll, dass das Wesentliche und Schöne an diesem Roman fast vergraben wird.