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Die zwei Enden des Lebens

von Yvonne

Weder für Suzanne noch für Serge gibt es einen Grund, nach irgendetwas im Leben zu suchen, denn schließlich haben sie beide all das, was man sich wünschen kann: Serge, mittlerweile 60, ist mit der mehr als 30 Jahre jüngeren Lucie verheiratet, die dafür sorgt, dass es ihrem Mann im Leben an nichts fehlt, sich um die beiden Kinder Théo und Chloé kümmert und das Haus zum Leben erweckt, während ihr Mann Pariser Luxus-Immobilien verkauft. Suzanne hat ihre Liebe zur Musik zum Beruf gemacht und arbeitet als Klavierstimmerin. Wie Serge und Lucie lebt auch sie in Montmartre, gemeinsam mit ihrem Mann Antoine, der Autos repariert und dessen Fußball-Aversion sich zum echten Problem auf der Arbeit entpuppen könnte.

Die Wege von Serge und Suzanne kreuzen sich, als Théo Klavierunterricht erhalten soll. Der Flügel, den Lucie dafür erworben hat, muss gestimmt werden, und so kommt Suzanne ins Haus von Serge.

In diesem Haus lebte ein Mann, von dem ich nichts wusste, nichts kannte, außer der Frau und dem Klavier, ein Mann dessen Rasierwasser zu süß, dessen Anzug zu dunkel war, und bevor wir uns begegneten, wussten wir es nicht, aber wir hatten beide nichts anderes getan, als auf schmalen Holzbrettern über den Sumpf zu laufen.

Doch erst beim Winzer-Fest des Viertels fühlen die beiden sich zueinander hingezogen. Serge, der bisher nur junge und besonders schöne Frauen in seinem Leben hatte, ist fasziniert von der Selbstverständlichkeit, mit der Suzanne ihr Alter und ihre ganzen körperlichen Unzulänglichkeiten ignoriert, wodurch sie eine Freiheit gewinnt, das Leben zu genießen, die Serge bis dahin völlig unbekannt war. Er ruft sie am nächsten Tag an, fährt bei ihr vorbei, und die Anziehung zwischen beiden ist so groß, dass sie sich ohne große Gedanken auf eine Affäre einlassen.

Suzanne möchte jedoch bald mehr über Serge wissen, stellt Fragen nach seiner Herkunft und Kindheit, und zum ersten Mal in seinem Leben glaubt eine Frau Serge nicht die Lügen, die er bisher immer vorgetragen hat. Durch die Begegnung mit Suzanne sieht Serge sich gezwungen, sich einem Kindheitstrauma zu stellen, dass er bisher – nicht besonders erfolgreich – verdrängt hatte, und das mit seinen Eltern und einer Affäre seiner Mutter zusammenhängt.

Ungewöhnliche Liebesgeschichte

Das Glück, wie es hätte sein können ist in vielerlei Hinsicht ein sehr untypischer Liebesroman, denn nichts an der Beziehung zwischen Suzanne und Serge wirkt zwangsläufig oder selbstverständlich. Betrachtet man die Leben der beiden etwas genauer, so gibt es für keinen der beiden einen Grund, sich in den jeweils anderen zu verlieben, und dennoch passiert genau das. Doch die Beziehung zwischen den beiden, die sich so schnell ergibt wie erledigt, steht gar nicht im Fokus des Romans. Vielmehr handelt er von zwei Individuen, die sich durch die unerwartete und recht späte Liebe beide noch einmal auf den Weg begeben, um etwas zu klären, was schon viel zu lange gewartet hat. Für Serge ist es die Aufarbeitung des Kindheitstraumas und der gestörten Beziehung zu seinem Vater, die Serges Leben Tag für Tag beeinflusst. Doch auch Suzanne gibt die Begegnung mit Serge Impulse, eine neue Richtung einzuschlagen und zu versuchen, sich Träume zu erfüllen, an die sie schon nicht mehr geglaubt hatte.

Véronique Olmi versteht es besonders gut, Beziehungen zwischen Menschen mit nur wenigen Sätzen zu skizzieren. So weiß man sofort, dass Lucie Serge trotz des großen Altersunterschieds aufrichtig liebt und alles daran setzt, ihm eine gute Ehefrau zu sein, dass Antoine und Suzanne eine gut eingespielte Ehe führen, die funktioniert, aber nicht viel Platz für Neues bereit hält, und dass die wahre große Liebe in Serges Leben seine Tochter Chloé ist. Besonders berührend ausgearbeitet ist jedoch die Beziehung zwischen Serge und seinem Sohn Théo: Théo, der sich die Zuneigung seines Vaters wünscht, sie aber nicht erhält, weil dieser sich selbst ein Vergehen in der Kindheit nicht verzeihen kann und in Théo immer sich selbst sehen wird. Wann immer Théo um seinen Vater herumschleicht, ungeschickt versucht, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen oder möglichst nicht zu stören, möchte man aus Mitgefühl für den Jungen den Vater möglichst feste und möglichst lange schütteln – und doch weiß man im gleichen Moment, dass Serge der ist, der er nun mal ist, weil er so gemacht wurde, dass ihn keine Schuld trifft, wenn er nicht aus seiner Haut kann, selbst wenn man meint, dass man mit 60 Jahren Herr über die eigenen Gefühle sein müsste.

Das Glück wie es hätte sein können erzählt in toller Sprache, die auch in der Übersetzung nichts an Bildgewalt und Sprachmelodie verliert, die Geschichte einer unglücklichen Liebe, die dennoch in den beiden Protagonisten Energien freisetzt, etwas in ihrem Leben zu ändern. Darüber hinaus zeigt der Roman besonders eindringlich, wie sehr wir alles in uns aufnehmen, was uns im Leben passiert, wie sehr wir jedes Erlebnis zu einem Teil unserer selbst machen und wie wenig wir uns davon distanzieren können, selbst, wenn ein halbes Leben zwischen uns und unserer Vergangenheit liegt.

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