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Verwirrspiel über Identität

von Yvonne

Es braucht einen zweiten Blick, ehe er erkennt, was sich da vor seinen Augen abspielt: Geschichtslehrer Tertuliano Máximo Afonso schaut eine Film-Empfehlung seines Kollegen aus dem Mathematik-Bereich mit dem schönen Titel „Wer Streitet, Tötet, Jagt“ und entdeckt in einer Nebenrolle – sich selbst. Die Ähnlichkeit des Schauspielers, der in der Komödie einen Rezeptionisten gibt, mit dem Lehrer ist so frappierend, dass es Máximo Afonso sogleich in eine Sinn-Krise stürzt. Denn wenn hier aus einer Laune der Natur, aus einem Zufall heraus zwei Mal der selbe Mensch zur selben Zeit geboren wurde, heißt das doch wohl, dass einer von beiden nur ein Irrtum, eine fälschlicherweise angefertigte Kopie sein kann. Natürlich besteht Máximo Afonsos große Sorge darin, dass er selbst dieser Irrtum sein könnte.

Schockiert und ein wenig gelähmt von dieser unglaublichen Entdeckung überlegt Máximo Afonso, was er nun tun kann, ob überhaupt etwas zu tun ist. Keiner erscheint ihm vertrauenswürdig genug, als dass der Lehrer sich ihm in dieser Situation anvertrauen könnte: Mit seiner Freundin Maria da Paz läuft es gerade nicht so gut, seine Mutter würde sich nur unnötig Sorgen machen, und derjenige, der noch am ehesten als Freund durchgeht, ist besagter Mathematik-Kollege, der Máximo Afonso – aus welchem Grund auch immer, denn eigentlich steht der Geschichtslehrer so gar nicht auf Filme, schon gar nicht auf billig-flache Komödien – erst auf den Film mit dem Doppelgänger angesetzt hat.

Die erste zu ermittelnde Unbekannte in dieser verzwickten Gleichung wäre dann die Frage, ob dem Mathematikkollegen, als er den Film sah, die Ähnlichkeit aufgefallen war oder nicht, und falls ja, warum er ihn dann nicht vorgewarnt hatte, als er ihn weiterempfahl, und sei es auch nur durch eine spaßige Drohung wie, Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie einen Schrecken kriegen werden.

Zögerlich entwickelt der Geschichtslehrer einen Plan, seinen Doppelgänger ausfindig zu machen, um ihn wenigstens einmal zu treffen. Dass aus einer solchen Begegnung nicht unbedingt etwas Gutes entspringen wird, ist ihm klar, doch längst hört er nicht mehr auf Vernunft und gesunden Menschenverstand, sondern ist besessen von dem Gedanken, dass es einen Menschen gibt, der vielleicht nicht nur äußerlich sein genaues Ebenbild ist. Als er seinen Doppelgänger schließlich findet, fühlen sich beide im Innersten um ihre Identität betrogen und reagieren aus dieser Verletztheit heraus mit dem – wie Saramago es nennt – Zorn der Sanftmütigen:

Sie besagt aber wohl, dass ein Mensch, Mann oder Frau, aus Einsamkeit, Hilflosigkeit oder Verzagtheit innerlich zerbrechen kann, aus einem, wie die Wörterbücher es nennen, Gefühl des Nichteingebundenseins in das soziale Gefüge, mit Auswirkungen auf die Willensbildung, das Verhalten und das vegetative Nervensystem, und trotzdem verschwindet, ausgelöst durch ein simples Wort, eine winzige Kleinigkeit, eine wohlmeinende, aber bevormundende Geste […] das Friedliche, Gefügige, Unterwürfige urplötzlich von der Bildfläche, und stattdessen wallt beunruhigend und unverständlich für die, die alles über die menschliche Seele zu wissen meinten, mit blinder zerstörerischer Gewalt der Zorn der Sanftmütigen auf.

Original oder Duplikat? Auf der Suche nach dem Doppelgänger

Der Doppelgänger ist kein typischer Thriller, wohl aber ein typischer Saramago. Mit gewohnten Erzählstrukturen wird gebrochen, es geht nicht um Begründungen und logische Erklärungen der geschaffenen Situation (hier: die Existenz eines identischen Doppelgängers, ebenso aber die plötzlich auftretende „weiße Blindheit“ in Die Stadt der Blinden oder das Ausbleiben des Todes in Eine Zeit ohne Tod). Die Umstände, in denen die Hauptfigur eines Saramago-Romans sich widerfindet – sofern es denn eine Hauptfigur gibt – muss der Leser genau so hinnehmen wie der Protagonist selbst. Intensiv beleuchtet wird stattdessen der Umgang von Individuum und Gesellschaft mit unerwarteten Änderungen in der Normalität. Die Reaktionen Máximo Alfonsos und später die seiner identischen Kopie stehen im Zentrum von Der Doppelgänger.

Auch wird Der Doppelgänger nach ganz typischer Saramago-Art erzählt: Man hat das Gefühl, mit einem Bekannten am Tisch zu sitzen und seinen Erlebnissen und – oft spontanen – Einfällen zuzuhören, denn Saramagos Erzählstil ist viel näher an der gesprochenen als an der üblicherweise geschriebenen Sprache angesiedelt. Anführungszeichen kennt Saramago nicht, und mit Punkten geht er äußerst sparsam um. Dies wirkt auf den ersten Blick ein wenig erschlagend, da auf einer Seite selten mehr als zwei oder drei Sätze Platz finden, in jedem Satz dafür aber locker fünf oder sechs nicht unbedingt zusammenhängende Ideen. Insgesamt entwickelt dieser atemlose Stil, bei dem man das Gefühl hat, dass dem Erzähler gerade noch etwas und noch etwas einfällt, was er unbedingt noch loswerden möchte, jedoch einen Sog, der einen das Buch (und auch Saramagos andere Bücher) nicht mehr aus der Hand legen lässt. Die ungewöhnliche Erzählperspektive ist ein den Leser einschließendes wir, das einen beim Lesen zum Mit-Erleber und gleichzeitig Mit-Gestalter des Romans macht.

Überhaupt geht es in Der Doppelgänger auch viel um das Erzählen. Die eigentliche Handlung entwickelt sich langsam und nimmt recht wenig Platz ein in dem knapp 400 Seiten langen Roman – auf etwa 60 Seiten schaut sich Máximo Afonso ein Video an und leiht sich weitere aus, unterbrochen von einem kurzen Abstecher ins Lehrerzimmer; bis er seinen Doppelgänger trifft, hat man zwei Drittel des Romans durch – dazwischen aber, daneben, darüber und darunter, geht es um das Wie? der Schilderung, um Vermutungen, Begründungen, Dinge, die nicht geschehen, und auch um die Interpretation des Erzählten. Insofern ist Der Doppelgänger nicht nur ein Roman, sondern auch gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Erzählen als soziale Interaktion an sich und der Versuch, durch Dekonstruktion althergebrachte Erzählstrukturen aufzubrechen, um etwas Neues zu erschaffen – einen Roman, der den Leser nicht nur auf der Ebene des Erzählten, sondern ebenso sehr auf einer Meta-Ebene anspricht, wie im vertrauten Dialog mit einem Schriftsteller, der einem Einblicke in seine Arbeit gewährt.

Auf Grund dieser ungewöhnlichen, Saramago-typischen Erzählstruktur wird man von Der Doppelgänger wahrscheinlich enttäuscht, wenn man einen spannenden Thriller mit ausgefeiltem Plot und plötzlichen Wendungen erwartet. Wer sich jedoch für das Erzählen an sich interessiert, für die Reaktion von Menschen in Grenz-Situationen und Freude an guter Sprache hat, ist mit Saramagos Roman mehr als gut bedient.

Die Verfilmung von Der Doppelgänger mit Jake Gyllenhaal läuft aktuell unter dem Titel Enemy in den Kinos.

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