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Schäfchen im Trockenen von Anke Stelling

von Yvonne

Am 1. Mai hat Kevin Kühnert eine längst fällige Debatte angestoßen. Kern der hitzig geführten Diskussion ist die Frage, ob unsere Marktwirtschaft schon deswegen sozial ist, weil wir ihr dieses Etikett irgendwann einmal aufgeklebt haben. Oder ob es nicht doch gesellschaftlich ungerecht ist, wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, oder anders gesagt: wenn eine ständige Umverteilung von unten nach oben erfolgt. Zum Beispiel über Mieten.

Indem ihr schweigt, schluckt und verschleiert, schont ihr uns nicht, sondern haltet uns in Unwissenheit. Privatisiert außerdem gesellschaftliches Unrecht – denn dass es euch nicht gut geht, bemerken wir, glauben aber, das habe rein persönliche Gründe.

Anke Stellings Schäfchen im Trockenen wirkt wie das Buch zu dieser Debatte. Hauptfigur Resi ist Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern im Berliner In-Viertel Prenzlauer Berg. Dass sie sich das leisten kann, verdankt sie ihrem Freundeskreis. In der Wohnung lebt sie zur Untermiete, ein Freund überlässt sie ihr und ihrer Familie großzügigerweise zum – extrem niedrigen – Selbstkostenpreis. Oder vielmehr überließ. Denn Resi ist bei den Freund*innen in Ungnade gefallen. Sie hat ein Buch über das Baugruppenprojekt geschrieben, indem sich bis auf Resi alle eingefunden haben, die sich schon aus Kindertagen kennen.

Was Resi daran stört und was sie in ihrem Buch auch auf den Punkt gebracht hat: Die Freunde geben sich linksliberal und sozial, wollen politisch auf der „richtigen“ Seite stehen, finden es aber genauso wichtig, wer die schönste der Wohnungen im Projekt bezieht und dass der begehbare Kleiderschrank nicht fehlt. Diesen Versuch, doch irgendwie ein richtiges Leben im falschen zu führen, entlarvt Resi schreibend. Und ihre Weigerung, ebenfalls – mit geliehenem Geld – in das Baugruppenprojekt zu ziehen, macht sie zur persona non grata, zur Erinnerung daran, wie man früher mal werden wollte und wie auf keinen Fall. Also kommt der Bruch mit der Vergangenheit und mit Resi. Die Wohnung wird gekündigt, und da Resi und ihr ebenfalls als Künstler tätiger Mann sich die steigenden Mieten in der Berliner Innenstadt nicht leisten können, droht der Verlust von Wohnung und der Bezugsgegend der Familie.

Dass es vielleicht doch notwendig ist, Privilegien zu teilen oder gar abzutreten, anstatt sich ihrer nur zu schämen und sie ein bisschen schlecht zu reden.

Natürlich gibt diese Entwicklung Resis Einschätzung ihrer Bekannten nur noch mehr Recht. Was sie wütend macht, ist, dass sie nicht darauf vorbereitet war, wie dieses Leben verlaufen würde. In den 1980ern großgeworden, war sie lange Zeit von dem überzeugt, was Familie, Freunde und Medien ihr stets predigten: dass man alles werden kann in dieser Welt, dass egal ist, wer man ist, und nur wichtig, was man tut. Sie möchte nicht, dass ihre Kinder denselben Fehler machen, und so schreibt sie einen Bericht an ihre älteste Tochter Bea, in dem sie ihr alles mitteilt, was sie selbst – teilweise schmerzhaft – lernen musste. Und zeichnet nebenbei das Bild einer Gesellschaft, die ihren eigenen Ansprüchen schon lange nicht mehr gerecht wird.

Noch sind die Achtziger, noch müssen die Reichen Steuern zahlen und die Armen kriegen davon Schwimmbäder gebaut.

Anke Stelling berichtet auf sehr persönliche Weise davon, wie die Gesellschaft sich Stück für Stück von ihren Idealen entfernt, Verantwortung immer mehr dem oder der Einzelnen aufbürdet, vor allem, wenn diese*r Einzelne weder über Macht noch über Geld verfügt. Dabei stehen hier gar nicht Cum-Ex-Investoren und Obdachlose einander gegenüber, sondern Mittvierziger, die während der Schulzeit eng befreundet waren – trotz unterschiedlicher Elternhäuser. Was damals kein Problem war, scheint heute eine unüberwindbare Hürde: das Geld, die Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, trennen nicht nur, sondern bringen Unverständnis und Wut auf beiden Seiten hervor.

Schäfchen im Trockenen handelt jedoch nicht nur von sozialen Unterschieden, sondern auch und vor allem davon, um wie viel stärker Frauen von deren Folgen betroffen sind. Sie beleuchtet die Generation ihrer Mutter sowie die eigene und gibt das Wissen und die Erfahrungen an die ihrer Tochter weiter. Frauen werden nicht wütend, sondern haben Verständnis, sogar noch für den, der sie und ihre Familie vor die Tür setzt. Ungerechtigkeiten werden dadurch nicht gerechter, aber leichter für den, der sie verursacht, weil Verstehen am Ende auch immer bedeutet, zu legitimieren oder zumindest zu normalisieren.

Verstehen ist ein äußerst wirksames Betäubungsmittel für hungrige, schmerzende Herzen, viel besser als Wut, weil die Wut irgendwann einen Ausbruch braucht, wenn man nicht ersticken oder platzen will an ihr, und wer weiß: Am Ende trifft sie noch den Falschen oder war von vornherein überzogen, unberechtigt gar.

Die Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft wird gleich auf mehreren Ebenen des Romans deutlich. Zunächst schildert Stelling die Folgen sozialer Ungleichheit aus ganz persönlicher Sicht und zeigt so, was Gesellschaft für den Einzelnen bedeuten kann. Zum anderen thematisiert sie, wie ein strukturelles Problem – die Barrieren, die Herkunft, Kapital und Geschlecht für den sozialen Aufstieg bedeuten, – auf der Seite der Verlierer*innen zum persönlichen Problem gemacht wird und auf der Seite der Gewinner*innen zum persönlichen Erfolg gedeutet wird. Wer es nicht schafft, hat sich nicht genug angestrengt oder dumme Entscheidungen getroffen. Wer das Geld der Eltern erbt, hätte sicher auch ohne das Erfolg gehabt. Das Perfide an dieser Logik: Wir haben sie alle verinnerlicht. Und es finden sich stets Beweise dafür. Denn jede*r trifft gute und schlechte Entscheidungen im Leben. Welche die richtigen waren, kann man sich im Nachhinein auch sehr gut zurechtinterpretieren.

Keiner wollte sich mehr schämen müssen angesichts ungerechter Verteilung, aber ohne Um- und Neuverteilung blieb nur der Ausweg, das Augenmerk auf die Idee der Schicksalsschmiede, des persönlichen Versagens und ungeschickter Einzelentscheidungen zu lenken.

Schäfchen im Trockenen ist für mich das beste Buch, das ich bisher in diesem Jahr gelesen habe. Es ist eindringlich, klar, mitreißend und spricht Themen an, die viel zu häufig als irrelevant oder unwahr wegdiskutiert werden. Im März wurde der Roman mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2019 ausgezeichnet.

Erster Satz: Hör zu Bea, was das Wichtigste ist und das Schlimmste, am schwierigsten zu verstehen und, wenn du’s trotzdem irgendwie schaffst, zugleich das Wertvollste: dass es keine Eindeutigkeit gibt.

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