Eine gläserne psychiatrische Klinik, die über der Stadt thront, so weit, dass sie den Bezug zu jeglichem Irdischen verloren zu haben scheint, deren Ärzte und Patienten sich kaum auseinander halten lassen, zu deren Aufgaben neben der Versorgung der Insassen mit Opium-Rhabarbersaft auch „Grenzschutz“ zählt, deren Leitung man nie zu Gesicht bekommt, in der die Vergangenheit nur existiert, um vergessen zu werden, und in der Rituale wie Stimmenhören, Atemübungen oder ärztlich verordneter Sex zur besseren Gesundheitseinsicht der Patienten führen sollen – eine solche Klinik lässt einen fast schon reflexartig an Kafkas Schloß denken. Doch anders als K., der unbedingt Zugang zum Schloss erlangen wollte, sind bereits alle Figuren in Angelika Meiers zweitem Roman „Heimlich, heimlich mich vergiss“ in der Klinik zu Hause und fühlen sich dort so wohl, dass sie gar nicht daran denken, sie verlassen zu wollen.
Dr. Franz von Stern ist Arzt in der Klinik, und wie alle anderen Ärzte ist er nicht nur Skorpion, sondern auch stolzer Besitzer eines Mediators. Dieser Mittler zwischen Herz und Gehirn soll dem Arzt dabei helfen, diese beiden Pole seiner Existenz – Gefühl und Vernunft, Körper und Geist – miteinander in Einklang zu bringen, um so noch besser seiner Bestimmung nachgehen zu können. Dieser Mediator ist so wichtig, dass das Herz eines jeden Arztes eigens dafür in die Magengegend verpflanzt wird, um Platz für diese Errungenschaft der Moderne zu schaffen. Denn der Mediator oder Referent, wie von Stern ihn gerne nennt, hat einen eigenen Willen, eine eigene Bestimmung, die er dem Arzt ununterbrochen einflüstert und, wenn möglich, aufzwingt.
Ausbruch in die Vergangenheit
Von Sterns Mediator scheint einen Defekt zu haben, denn obwohl die Klinikleitung es von ihm verlangt, kann der Arzt sich nicht dazu durchringen, seinen „Eigenbericht“ zu schreiben. Stattdessen kümmert er sich lieber um seine Patienten, vor allem den Professor, der von Stern den ganzen Tag beschimpft, und Evelyn, der in von Stern seinen Vater gefunden zu haben glaubt. Die Kollegen verschreiben ihm eine Nacht im Schlaflabor, wobei von Stern gar nicht weiß, ob er das noch kann – schlafen. Noch größere Sorgen aber bereitet von Stern eine neue Patientin, die es eigentlich gar nicht geben dürfte: eine Ambulante. Da die Klinik nur einen Eingang, aber keinen Ausgang besitzt, werden schon seit Jahrzehnten keine ambulanten Patienten mehr behandelt. Noch merkwürdiger ist allerdings, dass von Stern die Frau aus seiner Vergangenheit kennt, an die er sich eigentlich gar nicht erinnern sollte. Und er kennt sie nicht nur, sondern er war sogar mit ihr verheiratet, doch Esther – so heißt die Frau – weigert sich, ihn auch zu erkennen oder auch nur ihren Nachnamen anzugeben, um von Stern die Sicherheit zu geben, dass er wirklich seine Ex-Frau vor sich hat. Immer mehr denkt der Arzt an die Zeit zurück, die er mit ihr verbracht hat, vor zwanzig Jahren, als er noch ein junger Medizinstudent war.
Als wäre heute nichts geschehen, als wäre ich nicht von einem Tag auf den anderen, auf einmal schon vor zwanzig Jahren im Herbst, in meinem Herbst hier angekommen, denn zwanzig Jahre sind zwar kein Tag, aber erst seit heute sind sie plötzlich vergangen, […].
Surrealistische Dystopie
„Heimlich, heimlich mich vergiss“ mag auf den ersten Blick etwas schwer zugänglich wirken, da – wie in vielen Dystopien – die für den Leser so fremde Welt als völlig selbstverständlich und nicht erklärungsbedürftig dargestellt wird. So findet man erst nach und nach heraus, wo man sich befindet, wie die Klinik „funktioniert“ und welche Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren besteht. Die Verortung des Romans in einer psychiatrischen Klinik und die ungewöhnliche Doppelperspektive, aus der erzählt wird und in der teilweise mitten im Satz zwischen Referent und von Stern gewechselt wird, tragen zum Surrealismus von „Heimlich, heimlich mich vergiss“ bei. Einige Szenen wirken wie Traumsequenzen oder reine Fantasiegebilde. Doch trotz der Komplexität und Vielschichtigkeit, durch die der Roman sich in jedem Fall auszeichnet, bietet er eine spannende und gut lesbare Geschichte über jemanden, der selbst nicht weiß, wie wenig er ins System passt, und der im Widerstreit mit sich selbst und der Welt gleichzeitig steht. Vor allem die unzähligen Details, mit denen Angelika Meier die verrückte Klinik-Welt zum Leben erweckt, erstaunen einen immer wieder aufs Neue.
„Heimlich, heimlich mich vergiss“ stand 2012 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.