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All das zu verlieren von Leila Slimani

von Yvonne

Adèle lebt in Paris und hat eigentlich all das, wonach man als moderner Mensch im Kapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts streben sollte: einen spannenden Job, in dem sie richtig gut sein könnte, wenn sie wollte, eine schöne Wohnung in der Stadt, ihren Mann Richard, der sie liebt und reichlich Geld nach Hause bringt und ihren Sohn Lucien, der zwar anstrengend ist, aber ihr auch viel zurückgibt. Sie ist attraktiv und unabhängig, und nach den Maßstäben, die man ihr beigebracht hat, sollte sie glücklich sein.

Sie ist es aber ganz offensichtlich nicht. Denn immer wieder bricht sie heimlich aus ihrem Alltag aus. Sie hat mit fremden Männern Sex, sehr vielen Männern, oft erniedrigenden Sex, manchmal ungeschützten. Die Kontrolle darüber ist ihr längst entglitten.

Zwischen Familie und ihrem Zweitleben gerät sie in Panik, all das zu verlieren, wie der Titel schon sagt, und mit „all das“ sind ganz klar beide Seiten gemeint.

Dabei wird schon auf den ersten Seiten des Romans deutlich, worum es hier geht. Nicht etwa – wie ich in manchen Rezensionen entsetzt gelesen habe – um eine gelangweilte, verwöhnte Ehefrau, die sich quer durch Paris vögelt und ihren Mann gleichzeitig ausnutzt. Tatsächlich ist All das zu verlieren ein Suchtroman. Adèle ist süchtig nach Sex mit Fremden. Sie weiß rational, dass ihr dieses Leben nicht guttut, fürchtet Konsequenzen wie Aids oder eine ungewollte Schwangerschaft, versucht immer wieder, damit aufzuhören, und kommt doch nicht los davon. Sie muss die Dosis erhöhen, bestellt sich beispielsweise zwei Sexworker ein, um noch einen Kick zu erleben, wobei ihr der „normale“ Sex am Ende auch nicht mehr reicht.

Dass es Adèle nach bürgerlichen Maßstäben gut getroffen hat und jetzt doch eigentlich glücklich sein sollte, wirft gleichzeitig die (rhetorische) Frage auf, ob diese Maßstäbe wirklich die richtigen sind. Adèle ist von ihrem Leben entfremdet, empfindet keinerlei Emotion und hat gelernt, dass sie beim Sex eine besondere Art von Beachtung findet, die ihre Existenz rechtfertigt. Und ob es sich nun um Sex, Zigaretten, Alkohol, Drogen, Spiele oder Arbeit handelt – Suchtverhalten ist für eine Vielzahl Menschen, wenn nicht für die meisten, der einzige Weg, sich einen Sinn im Leben zu konstruieren.

Insofern ist All das zu verlieren nicht einfach ein Buch über Sex, über gelangweilte Ehefrauen oder über Sexsucht. Es ist ein Buch darüber, was die Erwartungen und Möglichkeiten, die unser modernes Leben bieten, mit uns als Menschen machen. Ein wichtiges und absolut aktuelles Buch.

Erster Satz:

Seit einer Woche hält sie durch.

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