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Der Erzähler von Richard Flanagan

von Yvonne

Schon lange vor den Lehman Brothers, Bernie Madoff und Junk Bonds gab es Menschen, die sich darauf verstanden, scheinbar aus Luft Geld zu machen – und dabei einfach nur geschickt ihre Mitmenschen im großen Stil betrogen. Nicht selten zogen einzelne Akteure dabei ganze Banken oder – wie während der Finanzkrise Ende der Nullerjahre – sogar ganze Länder in die Krise, während sie selbst jahrelang Millionen angehäuft hatten.

Ein solcher Akteur, den man hierzulande nicht kennt, obwohl er aus Deutschland stammt, war John Friedrich, der den zweifelhaften Ruhm erlangt hat, bis heute als Australiens größter Betrüger zu gelten. Dies gelang ihm, indem er eine unbedeutende und sehr kleine australische Sicherheitsfirma zu einem riesigen Konzern aufblähte. Finanzieren konnte er das Ganze mit Krediten von verschiedenen Banken, die er nutzte, um die Zinsen alter Kredite abzuzahlen und immer wieder ein paar Millionen abzuzweigen.

Staat und Wirtschaft waren begeistert von dem charismatischen Mann, bis die ersten Banken durch ihn in den Ruin getrieben wurden. Um insgesamt 700 Milllionen Australische Dollar betrog Friedrich die verschiedenen Geldhäuser. Noch während sein Gerichtsverfahren wegen Betrugs lief, erschoss Friedrich sich im Juli 1991.

Vermischung von Fiktion und Realität in Der Erzähler

Richard Flanagan, australischer Autor aus Tasmanien und mittlerweile Man Booker Prize-Träger für seinen wunderbaren Roman Der schmale Pfad durchs Hinterland, erledigte Auftragsarbeiten, bevor er zu einem der wichtigsten australischen Autoren der Gegenwart wurde. So kam es, dass er John Friedrich kennenlernte, um als Ghostwriter dessen Autobiografie zu verfassen. Diese Begegnung diente ihm als Inspiration für seinen aktuellen Roman Der Erzähler (First Person).

Siegfried Heidl, Australiens größter Betrüger, wartet Anfang der 1990er Jahre in Melbourne auf seinen Prozess. Kif Kehlmann, der aus Tasmanien stammt, hat mit Anfang 30 zwar noch nicht seinen großen Traum von der Schriftstellerkarriere aufgegeben, sieht sich aber viel praktischeren Problemen gegenüber. Seine Frau Suzy ist schwanger mit Kind Nr. 2 und 3 und die Gelegenheitsjobs reichen schon jetzt kaum aus, um die kleine Familie über Wasser zu halten. Als Kifs bester Freund Ray den Kontakt zu Heidls Verleger herstellt, will Kif zwar eigentlich das Angebot, dessen Memoiren zu schreiben, ablehnen. Aber 10.000 Australische Dollar sind ausreichend viele gute Argumente für den verzweifelten Mann, und so sagt er schließlich zu, Ghostwriter zu werden.

Was er nicht weiß: Heidl ist überhaupt nicht daran interessiert, eine Biographie zu veröffentlichen. Er will vor allem die Vorschüsse seines Verlegers nutzen, um ein paar Schulden bei alten Bekannten zu zahlen, die seine Gerichtsverhandlung positiv beeinflussen können. Jeder Frage, die Kif stellt, weicht Heidl aus. Stattdessen spielt der Betrüger mit Kif psychologische Spielchen. Heidl deutet an, für die CIA gearbeitet zu haben, Auftragsmörder zu bezahlen und Kifs Frau zu beobachten: Irgendwo zwischen leicht verrückt und ziemlich psychopathisch sind die Aktionen des Betrügers stets angesiedelt. Doch je länger Kif mit ihm zusammenarbeitet, desto mehr versteht er die Weltsicht des Betrügers, die alles andere als positiv ist.

Goodness is like God, Kif, the worst lie. You think you are kind and good and you will be rewarded. If not with money, then with the good life. But look at the world. […] Many of them, maybe most of them, are good people. But they suffer, and they suffer terribly, and they die horribly. […] The evidence of the world is that the world is evil. Cheats and liars win out. Violence wins out. Evil wins out.

Kif wird immer mehr hineingezogen in die Welt von Heidl, bis diese schließlich mit dessen Tod endet. Doch auch danach ist Kifs Leben ein anderes, womit Heidl erreicht hat, was er wollte: absolute Macht über den jungen Mann zu erhalten.

Es ist nicht nur Autobiographie, die zählt

Der Erzähler entspinnt eine psychologisch hochspannende Geschichte eines charismatischen Mannes, der alle Menschen um ihn herum mit Leichtigkeit für sich einnimmt und manipuliert – und das selbst über den eigenen Tod hinaus. Daneben drehen sich die Gespräche zwischen Heidl und Kif immer wieder um die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen. Nach Heidl gilt die vor allem für einen selbst und die eigene Familie – alles andere ist nebensächlich. Schließlich ist in seinen Augen die ganze Welt ein Betrug: Ob es nun Lobbyisten sind, die Einfluss auf die Politik nehmen und so die Pfründe ihrer Industrie sichern, oder Individuen, die Wege finden, selbst möglichst viele Menschen auszutricksen und so mehr für sich selbst zu verbuchen. Die einzige Frage, die sich für Heidl stellt, lautet: Will ich selbst mitmachen und profitieren oder will ich andere von mir profitieren lassen. Vor allem auf den jungen Kif übt der Gedanke, sich nicht mehr anstrengen zu müssen, ein guter Mensch zu sein, weil es ohnehin keinen Unterschied macht, einen ungeheuren Reiz aus, bis er spät im Leben erkennt, wohin eine solche Einstellung führt.

At the time I wanted to succeed, and I had thought that life was about success. Later I came to a different point of view. Living is about being wrong, as Ray once said. But hopefully getting away with it. To live is to be defeated by ever greater things, and it may be that you learn from your defeats, but mostly you are defeated by what you learn.

Die Tatsache, dass Flanagan selbst die Autobiographie für Heidls Vorbild John Friedrich als Ghostwriter verfasst hat, sowie weitere Parallelen zwischen Der Erzähler und der Realität des Autors schaffen zusätzlich eine Meta-Ebene des Romans. Kif lernt in einer New Yorker Bar eine junge Autorin kennen, die schon beim Gedanken an das Lesen von Romanen Würgegeräusche von sich gibt. Für sie zählt nur Autobiographie, denn nur, was selbst erlebt wurde, ist es wert, erzählt zu werden.

Tatsächlich kann man den Trend zum autobiographischen Schreiben erkennen, und einige Autoren – Karl Ove Knausgård oder Ben Lerner – nennt sie selbst. Doch mit der Verfremdung eines Vorfalls in der eigenen Autobiographie (und der Erzählung über eine, die nicht viel autobiographisches hat) zeigt Flanagan, worauf es in der Literatur eigentlich ankommt: auf eine Geschichte, die etwas in einem auslöst beim Lesen. Mag sein, dass das auch im autobiographischen Erzählen vorkommt (zum Beispiel bei Thomas Melles Die Welt im Rücken). Ein richtig guter Schriftsteller schafft es jedoch, aus dem, was er selbst erlebt hat, Inspiration für eine Geschichte zu finden, die nicht wahr ist, aber wahr sein könnte und in dieser möglichen Wahrheit eine Aussage über die Welt trifft. Und so ein Schriftsteller ist Richard Flanagan.

Erster Satz: Unser erster Kampf betraf die Geburt.

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