Home Rezensionen Eine Ahnung vom Anfang (Norbert Gstrein)

Eine Ahnung vom Anfang (Norbert Gstrein)

von Yvonne
Cover "Eine Ahnung vom Anfang" (Norbert Gstrein)

Cover „Eine Ahnung vom Anfang“ (Norbert Gstrein)

Es gibt Erinnerungen, denen man sich so ungern stellen möchte, dass man es mit einiger Willensanstrengung schafft, sie aus der eigenen Wahrnehmung zu verbannen, zu verdrängen. Zumindest funktioniert das so lange einigermaßen, bis es einen externen Auslöser gibt, der einen wieder auf diese Erinnerung stößt, die man am liebsten vergessen möchte.

In Norbert Gstreins Roman „Eine Ahnung vom Anfang“ gibt es viele Erinnerungen, die der namenlose Ich-Erzähler am liebsten aus seinem Gedächtnis streichen würde. Doch auch hier ist es so, dass nicht vergessen bleiben soll, was geschehen ist, denn in dem kleinen Dorf, in dem der Erzähler seit Jahrzehnten als Lehrer arbeitet, bringt plötzlich eine Bombendrohung Unruhe in den ansonsten eher beschaulichen Alltag. An sich nichts Ernstes, das, was man an Hand des anonymen Hinweises findet, hat nicht mal entfernt mit einer Bombe zu tun, und die Polizei hält den ganzen Vorfall für einen makabren Scherz. Dennoch wird ein Fahndungsfoto veröffentlicht, so pixelig, dass man eigentlich niemanden darauf erkennen kann, doch das Foto und die ganze Situation um diese seltsame Bombendrohung herum lassen den Erzähler an Daniel denken, der vor mehr als zehn Jahren sein Lieblingsschüler war.


 

Von verdrängten und verschleierten Erinnerungen

Tatsächlich reicht die Bezeichnung „Lieblingsschüler“ nicht für das aus, was sich zwischen dem Lehrer und Daniel abgespielt hat – und allein die Schwierigkeit, eine altersübergreifende Freundschaft ohne Implikation eines sexuellen Hintergrunds darzustellen, spiegelt wieder, was auch im Dorf die Runde macht: Zwar ist Daniel schon seit mehreren Jahren mit der Schule fertig, doch die Tatsache, dass er und sein Freund Christof dem ehemaligen Lehrer einen ganzen Sommer lang dabei helfen, eine heruntergekommene Mühle halbwegs bewohnbar zu machen, und dabei gemeinsam im Fluss schwimmen, Ravioli über der Feuerstelle erhitzen und im Gras Camus und Thoreau lesen, sorgt für Gerede. Richtig kann es jedenfalls nicht sein, dass der Lehrer seine durch die Stellung gegebene Autorität so frei interpretiert und die jungen Erwachsenen einfach machen lässt.

Jetzt, nach der Bombendrohung, die er Daniel durchaus zutraut, fragt der Erzähler sich natürlich, ob die Ursachen hierfür vielleicht schon in diesem Sommer lagen, in der falschen Lektüre, die er Daniel auf dessen Wunsch hin empfohlen hatte – genau wie er es zuvor schon bei seinem eigenen Bruder Robert getan hatte, der sich vor Jahren das Leben genommen hat. Sind es am Ende die Bücher gewesen, die den Schüler zum Terroristen und den Bruder zum Selbstmörder gemacht haben? Oder ist Daniel doch dem Einfluss des Religionslehrers erlegen, der ihn zu zwei Israel-Reisen überredet hat, von der Daniel verändert und für extreme Positionen offen zurückkehrte? In die gleiche Kerbe – die Empfänglichkeit für religiöse Heilsbotschaften – schlug auch der im Dorf nur „Reverend“ genannte amerikanische Prediger, der unbedingt Daniels Seele retten wollte.

„Eine Ahnung vom Anfang“ handelt von der Bandbreite an Möglichkeiten eines begabten, kritischen, aber leicht zu beeinflussenden Jugendlichen, der so wenig an Selbstbestimmung entwickelt, dass er nur in den Erzählungen anderer, die sich an ihn erinnern, auftaucht.

Dabei spielt „Eine Ahnung vom Anfang“ mit der Unzuverlässigkeit der Erinnerung und der Neigung zum Selbstbetrug, wenn es darum geht, sich selbst Unangenehmes nicht einzugestehen. Stets hat man das Gefühl, dass der Ich-Erzähler einem etwas vorenthält oder verheimlicht, dass er in Wahrheit mehr weiß, als er durchblicken lässt, und immer wieder lässt er in Nebensätzen Informationen fallen, die man wenige Seiten vorher nicht für möglich gehalten hätte und die die Vertrauenswürdigkeit des Erzählers stark in Zweifel ziehen lassen.

Sprachlich fesselnd und von der ersten bis zur letzten Seite spannend bleibt „Eine Ahnung vom Anfang“ stets im Bereich des Möglichen, des Interpretierten. Ob Daniel nun die Bombendrohung ausgesprochen hat oder nicht, wird bereits früh zur Nebensache. Stattdessen stößt man schnell darauf, dass sich im Nachhinein jede Entwicklung einer Person so schlüssig konstruieren lässt, dass sie geradezu zwingend erscheint.

„Eine Ahnung vom Anfang“ steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2013.

Infos zum Buch

Eine Ahnung vom Anfang
Norbert Gstrein
352 Seiten
Erstausgabe 2013


[manual_related_posts]

Google

Das könnte dir auch gefallen:

Schreibe einen Kommentar

Diese Website nutzt Cookies. Ich gehe davon aus, dass du damit einverstanden bist, wenn du die Seite nutzt. Du kannst dich aber aktiv davon abmelden. Akzeptieren Mehr Informationen