In die Psychiatrie können einen die verschiedensten Dinge bringen. Das weiß Jocki schon mit 7, denn die anderen Kinder und Jugendlichen, die er täglich in seinem Zuhause sieht, haben die unterschiedlichsten Probleme und eins gemeinsam: Fast alle leben in sich zurückgezogen, isoliert und ohne Kontakt zu den anderen. Jocki hat immerhin eine Familie. Er selbst lebt in der Psychiatrie, weil sein Vater dort Direktor ist, der mitten in der Anlage mit seinen drei Söhnen in einem ansonsten ganz normalen Einfamilienhaus mit Garten lebt.
Jocki, der eigentlich Joachim heißt, ist der jüngste der drei Brüder, und seine Verträumtheit und die „aus dem Nichts“ auftretenden Wutanfälle tragen nicht gerade dazu bei, dass die älteren beiden ihn endlich ernster nehmen. Doch dann fällt ihm geradezu eine Sensation vor die Füße: Er findet eine Leiche, einen toten Rentner, der im Schrebergarten mit dem Gesicht nach unten im Gras liegt. Auch wenn seine Lehrerin ihm zunächst nicht glaubt und das Ganze für eine geschmacklose Ausrede fürs Zuspätkommen hält, wird Jocki kurzzeitig zum Star der Klasse und der Familie, der seine ungewohnte Zuhörerschaft auch dann noch mit aufregenden Details versorgt, als die tatsächlich beobachteten längst aufgebraucht sind und er für Nachschub sorgen muss, indem er welche hinzu erfindet.
Episoden einer Kindheit in Schleswig
Der Ruhm währt – wie das ja meistens ist – nicht lange, und schnell ist Jocki wieder derjenige, der als einziger beim Familienspiel „Die Superfamilie“ die Fragen zu seinem Wissensgebiet selbst mit Hilfe der Mutter nicht beantworten kann, dem Vater jedes Jahr zum Geburtstag einen gebastelten Holz-Untersetzer schenkt, in der Schule und beim Essen in seine Tagträumereien verfällt und von den Brüdern dafür unentwegt aufgezogen wird. Die Ideen, die er so hat, sind manchmal aber auch wirklich – nun, ja – ungewöhnlich. Inspiriert durch einen Winnetou-Film – der schlechte Einfluss der Massenmedien ist wohl älter, als man denkt – versucht er, mit dem Familienhund Blutsbrüderschaft zu schließen, traumatisiert dabei (keine Sorge, nur für kurze Zeit) den Hund und lässt das Haus wie den Tatort eines Massenmords aussehen. Viele Freunde hat Joachim zu dieser Zeit allerdings auch nicht, außer dem Hund sind da noch zwei Bewohner der Psychiatrie, von denen einer aber plötzlich nicht mehr auftaucht, nachdem er angeblich einen Pfleger schwer verletzt hat.
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ schildert in sehr unterschiedlichen Episoden die kleinen und großen Erlebnisse, die das Familienleben ausmachen und die Einheit Familie prägen und einen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Bindung zum Vater, der die Dinge lieber theoretisch angeht und deshalb für den Sohn in der Praxis nur ganz selten greifbar ist, wobei diese Erlebnisse, wie zum Beispiel der Bau eines Miniatur-Meilers im eigenen Garten, für den Sohn besonders prägend sind.
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ ist der zweite aus Joachim Meyerhoffs autobiographischer Reihe „Alle Toten fliegen hoch“. Und auch wenn der Roman so locker und witzig geschrieben ist, dass ich mehrfach in der Bahn erstaunte Blicke auf mich zog, weil ich laut loslachen musste, zeigt „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, dass hinter den Alltagsanekdoten und der scheinbaren Sorglosigkeit immer auch etwas Ernstes und Endgültiges wartet. Nicht wenige der Episoden handeln vom Sterben und vom Abschiednehmen, und dies sind die berührendsten Stellen des Buchs, in denen ein paar Worte reichen, um die ganze Tragik des Aufwachsens spüren zu lassen. Der Roman beginnt mit dem Satz „Mein erster Toter war ein Rentner.“ – es bleibt nicht Jockis letzter.
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ steht aktuell auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2013. Ob der Roman es auf die Shortlist schafft, stellt sich am Dienstag heraus; ich jedenfalls drücke die Daumen.
Infos zum Buch
Wann wird es endlich wieder so,
wie es nie war
Joachim Meyerhoff
352 Seiten
Erstausgabe 2013
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