Was eigentlich passiert ist in „8 1/2 Millionen“ bleibt verschwommen und unklar, für den Leser wie für die Hauptfigur: Ein Unfall geschieht, etwas fällt vom Himmel, und nichts ist mehr, wie es war. Ein Grund für das Verschwommene des Erignisses liegt darin, dass der namenlosen Protagonist in Tom McCarthys Debütroman große Teile seines Gedächtnisses verloren hat, auch an die Zeit vor dem Unfall. Was bleibt, sind 8 1/2 Millionen Britische Pfund Entschädigung und das Gefühl, selbst nicht mehr authentisch sein zu können, die eigenen, nach anfänglichen motorischen Störungen wiedererlernten Bewegungen nur Kopien von etwas, das man irgendwo anders gesehen oder zu einer anderen Zeit selbst erlebt, aber vergessen hat.
Orientierungsloser Protagonist
Das einzige, was der Protagonist wirklich haben will, können die 8 1/2 Millionen Pfund nicht kaufen, und so läuft er durch Londons Straßen, beobachtet Menschen und stellt fest, dass auch deren Bewegungen unecht sind, Kopien von etwas anderem, nur ist er offensichtlich der einzige, dem das auffällt. (Und spätestens hier ruft „8 1/2 Millionen Assoziationen zu „Matrix“ oder gar zum Höhlengleichnis hervor.)
Doch irgendwann findet die Hauptfigur ein Stück Authentizität: Ein Riss in einer Badezimmerwand ruft bei ihm die erste lebendige Erinnerung seit seinem Unfall hervor, an einen anderen Riss zu einer anderen Zeit in einer anderen Wand. Das Glücksgefühl, das dieser wiedergefundene Gedanke ausgelöst hat, lässt ihn nicht mehr los, und um es wieder zu empfinden, beschließt er, seine 8 1/2 Millionen Pfund einzusetzen, um die wenigen Details, die ihm aus seinem Leben vor dem Unfall geblieben sind, wieder zum Leben zu erwecken. Er engagiert einen persönlichen Assistenten, der ganz London nach dem perfekten Haus absuchen lässt, das dem mit dem Riss in der Wand am nächsten kommt. Schauspieler werden engagiert, die das Haus bewohnen und jederzeit auf Abruf die Erinnerungsscherben, die dem Protagonisten geblieben sind, wieder aufleben lassen – einen Geruch nach einem bestimmten, eine auf dem Klavier gespielte Melodie, Katzen auf dem Dach, und das Ganze wieder und wieder.
Abnutzung des Wiedererkennungsgefühls
Das Gefühl, das die Hauptfigur beim Entdecken des Risses in der Wand hatte, lässt sich jedoch nicht auf Abruf reproduzieren, und so müssen die Ereignisse und Szenen immer häufiger nachgespielt werden und intensiver werden. Auch neu erlebte Geschehnisse, die in ihm irgendein Gefühl auslösen, lässt er sofort nachstellen, und bald beschränken sich seine Aktionen nicht mehr auf das angemietete Haus. Doch erst als sich Wirklichkeit und Illusion im Tod eines der Schauspieler treffen, ist der mittlerweile von seiner Umwelt emotional völlig gelöste Protagonist zu einer authentischen Empfindung fähig.
Infos zum Buch
8 1/2 Millionen (Remainder)
Tom McCarthy
299 Seiten
Erstausgabe 2005 (dt. 2009)
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