Wenn man an die Todesstrafe denkt, fallen einem sofort die USA, China, vielleicht noch Japan ein. Dass es gar nicht so lange her ist, dass auch in Europa die Todesstrafe verhängt wurde, ist einem meist gar nicht bewusst. Der letzte Mensch, der in Nordirland 1961 hingerichtet wurde, war Robert McGladdery, der zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt war und für den Mord an der 19jährigen Pearl Gamble gehängt wurde. „Requiem“ befasst sich in einer Mischung aus Reportage und Fiktion mit dem Fall und den Ermittlungen, die zu dieser letzten vollstreckten Todesstrafe führten.
Der Mord an Pearl Gamble erschüttert die Kleinstadt Newry. Eddie McCrink, der seine Stelle als Ermittler in London gerade aufgegeben hat, um in Nordirland ein ruhigeres Leben zu beginnen, wird als Chef-Ermittler benannt. Da man ihn in der Stadt nicht kennt, hat er Schwierigkeiten, die Menschen dazu zu bringen, mit ihm zu reden. Doch seine Kollegen auf der Polizeistation zeigen ihm schnell, dass das auch gar nicht nötig ist, denn für sie steht der Täter schon fest. Robert McGladdery ist nicht nur ein komischer Kauz und ein uneheliches Kind, sondern er ist auch schon beim Stehlen erwischt worden, und durch seine Schusterlehre hatte er auch Zugriff auf diverse Schusterfeilen, die als Tatwaffe in Frage kommen.
Statt unvoreingenommen Beweise zu sichten, tragen die von der Schuld McGladderys überzeugten Polizisten alles zusammen, was ihre eigene Theorie stützen kann. Ein Richter für die anstehende Verhandlung hat sich auch schon gemeldet: Lord Justice Curran ist sehr daran interessiert, den Fall zu übernehmen. Dass er dafür möglicherweise nicht geeignet ist, weil seine eigene Tochter vor neun Jahren auf sehr ähnliche Weise starb wie Pearl Gamble und er es nie verwunden hat, dass der für diese Tat Verurteilte nicht an den Galgen, sondern in die Psychiatrie kam, scheint keine Rolle zu spielen. Ohnehin ist der einzige, der an McGladdery Schuld zweifelt, McCrink. Doch ihm, dem Fremden, hört in Newry niemand zu. Stattdessen enthält man ihm Informationen vor, erschwert seine Arbeit, manipuliert Zeugenaussagen und mischt sich von höchster Stelle in die Ermittlungen ein. Auch McGladdery selbst verhält sich merkwürdig. Er scheint die ungewohnte Aufmerksamkeit zu genießen, die der Verdacht mit sich bringt, und zieht die Polizisten, die ihn beschatten sollen, wie der Rattenfänger von Hameln durch die Stadt. Dennoch leugnet er von Anfang an die Tat, und er glaubt nicht daran, dass man ihn verurteilen könnte. Tatsächlich ist er sich seiner Sache so sicher, dass er Informationen, die ihm seiner Meinung nach helfen können, bis zur Gerichtsverhandlung zurückhält.
Von der politischen Macht der Todesstrafe
„Requiem“ scheint auf den ersten Blick den Fall McGladdery neu aufzurollen, doch tatsächlich gibt es zu dem Fall keine wirklich neuen Informationen. Stattdessen setzt sich der Roman intensiv mit der Todesstrafe an sich auseinander. Am Ende ist keine Aussage darüber möglich, ob McGladdery den Mord begangen hat oder nicht. Was aber bleibt, ist ein starker Zweifel, ob nicht vielleicht ein Unschuldiger gehängt wurde, und dieser Zweifel zählt zu den wichtigsten Argumenten gegen die Todesstrafe. Ein Argument, das von Befürwortern der Todesstrafe oft gebracht wird, die abschreckende Wirkung, spielt ebenfalls eine Rolle, denn diese Abschreckung weiterer möglicher Täter greift ja nur dann, wenn die Todesstrafe verhängt und vor allem auch vollstreckt wird. Und so ziehen sich durch den Roman immer wieder Äußerungen von Polizisten, Journalisten, Juristen, dass jetzt wirklich noch mal einer hängen muss, und McGladderys Schicksal scheint unter anderem davon abzuhängen, ob in einem ganz anderen, etwa zeitgleich verhandelten Fall der Angeklagte zum Tode verurteilt wird oder nicht. Damit ist auch die Motivation der Beteiligten klar: Hier wird kein Mord aufgeklärt, kein Täter bestraft, sondern Politik gemacht. Denn während man an der Oberfläche Täter abschreckt und die Gesellschaft davon „befreit“, sich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen, kann man sich nebenbei noch als harter Hund positionieren. Dass es Menschenleben sind, die man hier wie Schachfiguren dem eigenen großen Ziel opfert, spielt nicht mal eine untergeordnete Rolle.
„Requiem“ liest sich trotz teils sperriger Sprache spannend wie ein Krimi, entlässt einen dabei aber keine Sekunde lang aus der Verantwortung, über den Hintergrund dieser Ermittlungen nachzudenken und sich selbst zu positionieren.
Infos zum Buch
Requiem
(Orchier Blue)
Eoin McNamee
340 Seiten
Erstausgabe 2012
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