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Mit geöffneten Augen der eigenen Sterblichkeit begegnen

von Yvonne

Nichts lässt sich im Leben erfolgreicher verdrängen als die eigene Sterblichkeit. Klar, irgendwann trifft es einen, aber das ist nicht nur ein Thema, dem man sich nicht gerne widmet, sondern aufgrund der Unvorstellbarkeit der eigenen Nicht-Existenz auch eine Tatsache, die sich so weit am äußeren Rand des mentalen Sichtfelds aufhält, dass man sie leicht über Jahre und Jahrzehnte hinweg übersieht. Für all die Dinge, die man sich noch vorgenommen hat, ist noch so viel Zeit, dass nichts Wichtiges wirklich dringend sein muss. Vor der eigenen Endlichkeit kann man, sollte sie einem in schwachen Momenten bewusst werden, getrost die Augen schließen.

Diese instinktive Selbsttäuschung bricht zusammen, wenn der eigene Tod in so greifbare Nähe rückt, dass man die verbleibende Zeit beziffern kann. Wolfgang Herrndorf erhielt im Februar 2010 die Diagnose Glioblastom, ein hirneigener bösartiger Tumor, nach dessen Feststellung man im Schnitt – wie er aus einer Statistik erfährt – noch 17 Monate zu leben hat. Herrndorf blieben am Ende mehr als drei Jahre, die er intensiv genutzt hat und in denen ihm der Ratschlag eines anderen Erkrankten, Arbeit und Struktur in seinem Leben als oberste Ziele zu installieren, eine Richtung gegeben hat. Festgehalten hat er den Verlauf seiner Krankheit, seinen Umgang damit und die Arbeit an seinen Romanen zu dieser Zeit in seinem Blog „Arbeit und Struktur„, der nun postum als Buch veröffentlicht wurde.

Mit geöffneten Augen der eigenen Sterblichkeit begegnen

Vom Zeitpunkt seiner Diagnose an steht für Wolfgang Herrndorf fest, dass er keine Zeit mehr hat, was aber nicht zur Verzweiflung (manchmal auch das, aber eben nicht durchgängig) oder Resignation führt, sondern zur Konzentration auf das, was ihm im Leben wichtig ist: seine Freunde, schwimmen gehen, Fußball spielen, lesen, Filme sehen und vor allem Schreiben. 2010 hatte Herrndorf einen von der Kritik gelobten, aber schlecht verkauften Roman („In Plüschgewittern“) und eine Kurzgeschichtensammlung („Diesseits des Van-Allen-Gürtels“) veröffentlicht, andere Projekte wie ein Jugend- und ein Wüstenroman warteten auf Fertigstellung. Mit dem Wissen, dass es jetzt oder nie passieren musste, begab sich Herrndorf an die Arbeit, stellte zunächst den Jugendroman – „tschick“ – in unglaublicher Geschwindigkeit fertig und erreichte damit nicht nur ein persönliches Ziel, sondern auch Erfolg beim Publikum.

„tschick“ wurde ein Bestseller, wird als Schullektüre gelesen und erhielt den Deutschen Jugendliteraturpreis. Während Herrndorf sich dann an den Wüstenroman „Sand“ machte, der 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann und auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, überlebte er seine eigene Überlebenswahrscheinlichkeit, kämpfte mit epileptischen Anfällen, manischen Phasen, OPs und Chemotherapie. In seinem Blog berichtete er über all das mit einer Offenheit, die es einem als Leser nicht mehr erlaubt, die Augen zu verschließen, die einen zwingt, hinzusehen auf das, was einen Menschen eben am Ende auch ausmacht: Sterblichkeit, Schwäche, aber auch der Wille, dies zu überwinden und etwas zu schaffen, das bleibt, wenn man schon selbst nicht bleiben kann.

„Arbeit und Struktur“ ist weit mehr als ein Krankheits- und Sterbetagebuch, es ist eine inspirierende Auseinandersetzung mit dem, was im Leben wichtig ist. Und wahrscheinlich ist es deswegen aktuell auf sämtlichen Bestseller-Listen zu finden, denn das Besondere ist ja nicht, dass Herrndorf sterben musste, sondern dass er wusste, dass es bald passieren wird. Dass dieses Wissen eine Belastung, aber auch ein Vorteil ist, schrieb er selbst, aber man kann es auch in jeder Zeile des Blogs herauslesen.

Ein großer Wunsch von Wolfgang Herrndorf war es, „Herr im eigenen Haus“ zu sein, womit er meinte, dass er selbst bestimmen wollte, ob sein Leben für ihn noch lebenswert ist. Am 26. August 2013 nahm er sich das Leben.

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