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Die Zeit lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen

von Yvonne

Die große Frage, die sich dem Helden einer jeden Zeitreise-Geschichte stellt, lautet: Was mache ich denn nun damit? Mit dieser geheimen Maschine, neu entdeckten Superkraft oder dem verborgenen Weg in eine andere Zeit? Für Jake Epping stellt sich diese Frage gar nicht, denn seine – recht lange – Zeitreise, um die es in Der Anschlag geht, tritt er mit einem klaren Auftrag an.

Jake ist Lehrer in Lisbon Falls, der neben seinem Beruf an einer „normalen“ High School auch Abendkurse gibt, in denen er Schulabbrechern die Möglichkeit gibt, ihren Abschluss nachzuholen. Bei dieser Tätigkeit hat Jake schon manches traurige Schicksal kennengelernt; am meisten jedoch hat ihn das von Hausmeister Harry getroffen, der als Kind in der Halloween-Nacht 1958 miterleben musste, wie sein betrunkener Vater fast seine ganze Familie tötete. Dennoch liebt Jake seinen Beruf und die Kleinstadt, in der er lebt und wo er nahezu jeden kennt. Als eines Abends Al, der Besitzer des örtlichen Diners, vor seiner Haustür steht, ist Jake trotzdem überrascht, vor allem weil Al um Jahre gealtert aussieht.

Die Erklärung hierfür liefert Al gleich nach: Al hat in seinem Diner ein „Loch in der Zeit“ entdeckt, über das man zu einem bestimmten Tag reisen kann, zum 9.9.1958. An diesem Ort kann man so lange bleiben, wie man möchte – kehrt man zurück, sind im Jahr 2011 nur zwei Minuten vergangen. Lange Zeit hat Al dieses Wunder nur genutzt, um Fleisch zu Preisen von 1958 zu kaufen, bis ihm schließlich der Gedanke kam, dass er, wenn er ein paar Jahre wartet, vielleicht das Attentat auf John F. Kennedy verhindern kann. Während 1958 noch fünf Jahre Zeit bis zu seinem Einsatz sind, drängt Al 2011 die Zeit, denn schon in einer Woche soll sein Diner abgerissen werden. Als letzter Trip in die Vergangenheit dauerte also länger, weil er sich in Warteposition begab. Kurz bevor es so weit war, ist Al jedoch an Lungenkrebs erkrankt. Seine Mission, auf die er sich selbst geschickt hat, will er nun an Jake weitergeben.

Jake, der sich schließlich durch einen Selbstversuch in Als Diner überzeugen lässt, dass sein Bekannter nicht völlig übergeschnappt ist, hat Bedenken, so stark in die Geschichte einzugreifen, kennt man doch den Schmetterlingseffekt, nach dem eine minimale Änderung in der Vergangenheit verheerende Auswirkungen auf die Gegenwart haben kann. Also kommen die beiden überein, zunächst einen Probelauf zu machen, bei dem Jake Harrys Vater davon abhalten will, seine Familie zu töten. Erst danach kann er sicher sein, dass auch sein gravierenderer Eingriff nicht das Universum zum Einsturz bringt. Ein weiteres Problem: Al hat bei seinen Ausflügen in die Vergangenheit festgestellt, dass die Geschichte es nicht gern hat, wenn man sie ändern will, dass die Hindernisse zu nehmen, je größer die Veränderung ist, und dass die Zeit sich quasi mit Händen und Füßen gegen jeglichen Eingriff wehrt.

Entsprechend muss Jake gegen etliche Schwierigkeiten kämpfen, ehe er Harry von seinem Trauma befreien kann, und als er schließlich nach vereitelter Tat im Jahr 2011 zurück ist, steht die Welt noch. Seiner zweiten Reise steht nun nichts mehr im Wege. Also macht Jake sich gleich am nächsten Tag wieder auf den Weg ins Jahr 1058, um dort eine längere Wartezeit zu beginnen. Da er Dallas nichts abgewinnen kann, lässt er sich in der Kleinstadt Jodie nieder, mit dessen Einwohnern er sich anfreundet und wo er sich verliebt.

Mehr als eine Zeitreise-Geschichte

Der Zeitreise-Roman Der Anschlag von Stephen King dürfte all diejenigen überraschen, die King ausschließlich mit Horror oder Fantasy in Verbindung bringen, denn – von dem Zeitreise-Thema einmal abgesehen, handelt es sich bei Der Anschlag um einen sehr realitätsnahen Roman. Dieses kleine Loch in der Wirklichkeit, dass Jake in die Vergangenheit schickt, ist die einzige Anomalie, die das Buch zu bieten hat; alles andere hätte es in den 1960ern durchaus geben können oder gab es sogar.

Die Art der Zeitreise, die King vorstellt, ist sehr ungewöhnlich, denn Jake, der Zeitreisende, hat selbst keinerlei Einfluss darauf, zu welchem Zeitpunkt er reist, kann nicht wählen, ob er in die Vergangenheit oder die Zukunft möchte und muss, wenn er zu einem späteren Zeitpunkt als seinem Ausgangspunkt gelangen will, das tun, was jeder tun muss, der in die Zukunft „reisen“ will: Er muss warten. Dafür hat er aber die Möglichkeit, die Änderungen, die – wie man ja aus etlichen Büchern und Filmen über Zeitreisen weiß, so eine Zeitreise in die Vergangenheit unweigerlich mit sich bringt, wieder zurückzunehmen. Somit hat er die Möglichkeit, ein wenig zu experimentieren, ohne, dass seine eigene Existenz gefährdet wäre: Ein Schritt aus Als Diner ins Jahr 1958, und alles ist wieder gut. Das Besondere daran ist jedoch, dass Jake den gleichen Limitierungen unterworfen ist wie alle anderen Menschen und (Buch-)Helden, allen voran seiner eigenen Lebenszeit. Dass eine Zeitreise fünf Jahre lang dauert, ist eher ungewöhnlich und gibt den auf ihr „erledigten“ Dingen noch einmal eine ganz andere Gewichtung. Denn was zunächst Al und später Jake zwar zögerlich, aber dennoch ganz selbstverständlich tun, ist, die Chance, die sich ihnen bietet, Verantwortung für die Weltgeschichte zu übernehmen, zu ergreifen und auf Kosten ihres eigenen Glücks und – in Als Fall – ihres eigenen Lebens, alles daran zu setzen, sich richtig zu verhalten.

Wie in allen Romanen von Stephen King gelingt es dem Erfolgsautor auch hier wieder, einen für die Figuren, denen er Leben, Liebe, Glück und Traurigkeit einhaucht, so einzunehmen, dass es einem am Ende des Buches mehr als schwer fällt, sie loszulassen, dass man mit ihnen bangt, trauert und sich auch freut. Das macht die Entscheidungen, die Jake während seiner Zeitreise zu treffen gezwungen ist, natürlich um so härter, denn wie er selbst hätte man Lust, einfach in Jodie zu bleiben und sich um den Rest der Welt nicht mehr zu kümmern.

Vielleicht hätte man auf 200 der mehr als 1.000 Seiten verzichten können und immer noch eine runde Geschichte (und einen ordentlichen Wälzer) erhalten. Insgesamt ist Der Anschlag aber in jedem Fall einer außergewöhnliche und absolut lesenswerte Geschichte über Zeitreisen, Verantwortung und Liebe. Für mich ist dieser Roman ein weiterer Beweis dafür, dass der „Horror-Meister“ Stephen King dann am besten ist, wenn er keine Horror-Geschichten schreibt.

 

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