Wenn man gedanklich so weit ist, seine Großeltern nach deren Vergangenheit, nach der Rolle der eigenen Familie in der jüngeren Geschichte zu fragen, ist es meist leider zu spät. So war es auch bei Per Leo, obwohl die Tatsache, dass er aus einer Historiker-Familie stammt, ihm die Frage nach der Vergangenheit quasi in die Wiege gelegt hat. Mittlerweile hat Per Leo diese Frage nicht nur gestellt, sondern sie in seinem Debütroman Flut und Boden auch gleich beantwortet: Er erzählt die Geschichte seiner Familie und deren Verwebung mit der deutschen Geschichte.
Während er im Geschichts-Studium gerade ziemlich durchhängt, nicht mehr weiß, ob er das richtige mit seinem Leben anfängt, hilft Per Leo seiner Großmutter, das Familienhaus zu räumen und entdeckt, als die Großmutter ihm anbietet, sich alles mitzunehmen, was er möchte, die gesammelten Nazi-Schriften seines zwei Jahre zuvor gestorbenen Großvaters. Dass der Abteilungsleiter im SS-Rasseamt war, war Per Leo bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, und mit dem neu entzündeten Interesse macht er sich daran, das Leben von Friedrich Leo zu rekonstruieren. Der Zufall bringt ihm dabei einen zweiten, ganz anderen Zeitzeugen zu Hilfe: Martin Leo, Friedrichs vergeistigten Bruder, der zwar unter denselben Umständen aufwuchs, aber dennoch ein ganz anderes Leben einschlug.
Flut und Boden: Deutsche Geschichte am Beispiel zweier ungleicher Brüder
Vor allem Friedrich gibt ein Paradebeispiel des Nazi-Karrieristen ab: Die Schule abgebrochen, keine wirkliche Perspektive im Leben, obwohl er aus mehr als guten Elternhaus kommt und die Erwartungen entsprechend hoch sind. Da kommt die SS mit ihren hierarchischen Strukturen und ihrem auf Gehorsam basierenden Aufstiegsmöglichkeiten gerade recht, und der Aufstieg passiert fast automatisch und ohne Friedrichs Zutun. Während dieser sich seiner neuen Ideologie verschreibt und gar eigene nationalsozialistische Werke verfasst, widmet Bruder Martin sich lieber seinen Goethe-Studien.
Das besondere an Flut und Boden ist zum einen die Verwebung mit der ganz persönlichen Familiengeschichte, die oft erstaunlich offen und schonungslos erzählt wird. Zum anderen beschränkt sich Per Leo nicht darauf, die Geschichte seines Großvaters und -onkels zu erzählen, sondern er bettet das Ganze ein in seine eigene Entdeckung und Wahrnehmung dieser eigenen Herkunft und erzählt zudem eine Geschichte seines eigenen Erwachsenwerdens in Abgrenzung zum Heranwachsen von Friedrich und Martin. Der Student, der sich in praktischer Geschichte übt, weil sein Studium ihm entfremdend erscheint, findet über die Schriften seiner Vorfahren mehr als „nur“ ein Zeitzeugnis, sondern auch einen Anker für sich selbst. Die beiden Hauptfiguren, die aus der exakt gleichen Umgebung kommen und sich dennoch völlig unterschiedlich entwickeln, machen Flut und Boden darüber hinaus lesenswert, da an Hand ihrer Lebenswege die Schwierigkeit der Frage nach der Ursache deutlich wird.
Flut und Boden ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2014 in der Kategorie „Belletristik“.