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Zwillingsbrüder als Kollateralschaden

von Yvonne

Der Krieg nimmt keine Rücksicht auf Kollateralschäden, auf die zufällig in die Schusslinie Geratenen, deren Leben durch den Kampf um Macht und Territorien zerstört wird. Das große Heft erzählt von Zwillingsbrüdern, die ein solcher Kollateralschaden sind, für die der Krieg das Ende der Kindheit bedeutet, ein jähes und folgenreiches Ende. In der Stadt, in der sie bisher bei den Eltern aufwuchsen, kann man sie nicht mehr versorgen, also bringt die Mutter sie in die Nähe der Grenze aufs Land zur Großmutter, die einen Garten und damit ganz andere Möglichkeiten der Nahrungsbeschaffung hat. Die Großmutter hält weder etwas von ihrer Tochter noch von der Idee, zwei Kinder, die sie nicht mal kennt, durchzufüttern, doch man wird sich finanziell einig und überdies sind die beiden Jungs ja auch als Arbeitskräfte zu gebrauchen.

Die Welt, in die die Kinder kommen, ist eine völlig andere, die Menschen sind hart, unfreundlich, auf ihren eigenen Vorteil bedacht und grausam. Dass es ausgerechnet eine Grenzstadt ist, in der die Kinder unterkommen, macht die Situation noch schlimmer, denn gerade hier ist der Konflikt allgegenwärtig, besteht die größte Unsicherheit, was wird, werden Soldaten im eigenen Haus einquartiert. Da es keinen Erwachsenen gibt, der sich um die Brüder kümmert, ihnen als Vorbild dienen kann oder auch nur Interesse an ihnen hat, beginnen sie, da sie nun auch nicht mehr zur Schule gehen, ihren eigenen Unterricht durchzuführen. Sie bringen sich selbst bei, was sie brauchen, um in der unfreundlichen Umgebung zu überleben. Da sie geschlagen werden, trainieren sie, Schmerzen auszuhalten, indem sie sich gegenseitig schlagen. Weil sie nichts von ihrer Mutter hören, üben sie Gefühlskälte, indem sie sich mit Schimpfwörtern anschreien, und da sie nur so eine Chance auf Teilhabe haben, bringen sie sich Grausamkeit bei.

Wir beschließen, unseren Körper abzuhärten, um den Schmerz ertragen zu können, ohne weinen zu können.

Ihre Übungen und ihre Erlebnisse halten sie in einem Schulheft fest, von dem Das große Heft seinen Namen hat. Ihre eigene Auflage ist es, in diesem Heft nur die Wahrheit zu schreiben, keine Gefühle, keine Interpretationen, sondern ausschließlich beobachtbare Tatsachen.

Auch wenn wir schreiben: „Der Adjutant ist nett“, ist das keine Wahrheit, weil der Adjutant vielleicht zu Gemeinheiten imstande ist, die wir nicht kennen. Wir werden also einfach schreiben: „Der Adjutant gibt uns Decken.“

Je länger die Kinder bei ihrer Großmutter bleiben, desto mehr passen sie sich an. Der Krieg wird zur Normalität, mit dem die Zwillinge umgehen können, indem sie sich einfach weitere Eigenschaften antrainieren, die sie an den Erwachsenen um sie herum sehen.

Das große Heft als Zeugnis eines Traumas

Es ist das große Heft selbst, das man als Leser in Händen hält, die Aufsatzsammlung der Zwillingsbrüder, die durch ihre Übungen in Askese ihre Vergangenheit so sehr aus ihrem Leben getilgt haben, dass sie nicht mal mehr ihre Namen nennen. Die einzelnen Kapitel sind die Aufsätze der Kinder, tragen Titel wie Großmutter oder Der Schmutz und geben einen oft erschütternden Einblick in das Leben und die Gefühlslage der Brüder, auch wenn Letzteres genau das ist, was sie zu vermeiden suchen.

Die Kapitel sind kurz, zwei bis vier Seiten lang, die Sätze sind ebenfalls kurz, klar strukturiert und haben kaum Nebensätze. Schon die Sprache zeigt den Versuch der Zwillinge, das ganze durch den Krieg verursachte und durch die Menschen über sie herein gebrachte Geschehen möglichst außen vor zu lassen. Der Text klingt kalt und emotionslos. Auf der inhaltlichen Ebene jedoch wohnt man der Entstehung eines Traumas bei, das die Jungen dazu bringt, nicht nur die Grausamkeiten der anderen zu ertragen, sondern sich selbst grausam werden zu lassen. Diese nüchterne, distanzierte Darstellung auch noch der größten Unfassbarkeiten führt dazu, dass man beim Lesen doppelt so hart getroffen wird vom Leben der Hauptfiguren.

Das wirklich Schlimme an der Verrohung der Kinder ist, dass sie eine Geschichte der Anpassung ist, an den Krieg, an die neue Umgebung bei der Großmutter, an die Menschen um sie herum, die selbst nicht wissen, wie sie mit dem Krieg, der wirklich unmittelbar vor der eigenen Haustür, an der Grenze, stattfindet, zurechtkommen sollen. Diese Anpassung macht aus zwei behüteten Neunjährigen auf sich selbst gestellte Verwahrloste und ist auch äußerlich sichtbar.

Wir werden immer schmutziger, auch unsere Kleider. […] Unsere Fußsohlen werden hart, wir spüren die Dornen und Steine nicht mehr. Unsere Haut wird braun, unsere Beine und Arme sind voller Schrammen, Schnittwunden, Krusten, Insektenstichen. Unsere Nägel, die nie geschnitten werden, brechen ab, unsere Haare, die wegen der Sonne fast weiß sind, reichen uns bis zu den Schultern.

Die Kinder sind am Ende angepasst, aber nicht schlecht oder böse. Sie entwickeln ihre eigenen Moralvorstellungen, die es ihnen erlauben zu überleben, allerdings nicht auf Kosten Unschuldiger. Dass es in dieser vom Krieg missbrauchten Stadt kaum noch Unschuldige gibt, macht das Überleben nach all den vorbereitenden Übungen sogar ein bisschen leichter.

Die wohl wichtigste Lektion, die die Jungen lernen, bringen sie sich jedoch nicht selbst bei. Denn trotz all der Genauigkeit, des Ausschlusses jeglicher Emotionen und dem Versuch, nur die Wahrheit zu schreiben, stellt sich immer wieder heraus, dass man sich nie sicher sein kann. Menschen, denen die beiden vertrauen, verspielen in einer Sekunde alle Sympathie – sowohl bei den Zwillingen als auch beim Leser -, und manchmal ist es gerade der Feind, der sich überraschend menschlich zeigt. Auch auf Das große Heft selbst trifft diese Lektion zu: Der Roman ist der erste Teil einer Trilogie, und die folgenden Bände Der Beweis und Die dritte Lüge werfen jeweils noch mal ein völlig anderes Licht auf alles zuvor Gelesene.

Ágota Kristóf wuchs selbst während des Zweiten Weltkriegs in der ungarischen Grenzstadt Kőszeg auf, die sehr an die Stadt in Das große Heft erinnert. Eigene Kriegserfahrungen flossen sowohl in diesen Roman als auch in die beiden Nachfolger.

2013 verfilmte der ungarische Regisseur János Szász Das große Heft unter anderem mit Ulrich Matthes.

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