Jeder freut sich wohl auf seinen 18. Geburtstag, denn immerhin ist er der Schritt ins Erwachsenenleben, auf den man seit Jahren sehnsüchtig wartet. Er verheißt einem grenzenlose Freiheit, ungeahnte Möglichkeiten und endlich das Recht, voll und ganz über sich selbst zu bestimmen. Tom Gagarin, der früher mal King mit Nachnamen hieß, freut sich noch ein bisschen mehr auf seinen 18. Geburtstag als andere, denn für ihn bedeutet dieser Tag, dass er die Jugendpsychiatrie, in der er seit 1973, also seit drei Jahren, lebt, endlich verlassen darf. Genau so wie Tom freut sich sein jüngerer Bruder Jack, der mit ihm in der Psychiatrie lebt, allerdings nicht als reale Person, sondern in Toms Kopf, Gedanken, Vorstellung, denn gewissermaßen ist Jack der Grund für Toms Aufenthaltsort. Für Tom ist Jack jedoch mehr als real, der jüngere sucht Rat bei seinem Bruder, bringt ihn in Verlegenheit und steuert dessen Verhalten. Und seit Jack vor sechs Jahren gestorben ist, ist er keinen Tag älter geworden.
Tom, dessen Trauer um den kleinen Bruder ihn hinter geschlossene Türen gebracht hat, muss wie alle jungen Erwachsenen feststellen, dass der 18. Geburtstag nicht der Meilenstein im Leben ist, für den man ihn hält. Für Tom heißt das, dass er zwar die Jugendpsychiatrie verlassen darf, aber nur, um in eine entsprechende Anstalt für Erwachsene zu wechseln, in der man ihn dann endlich mit anderen Methoden behandeln kann, um ihn so von Jack zu „befreien“ – und was das in den 1970ern hieß, dürfte jedem klar sein, der Einer flog über das Kuckucksnest gesehen hat.
Also machen Tom und Jack das einzig sinnvolle: Sie brechen nachts aus der Anstalt aus, versuchen, ihre geliebten Modell-Flugzeuge und Raketen mitzunehmen und müssen auch weniger schöne Dinge in Kauf nehmen und tun, um wenigstens zu versuchen, ein Leben in Freiheit zu führen.
Während die Brüder, die nichts von der Welt verstehen, versuchen, in ihr zurechtzukommen, erzählt Tom in Rückblenden von der Kindheit mit Jack und den Eltern, der ersten Zeit nach dem Unfall, bei dem Jack ums Leben kam, und immer wieder von seinem Vater, der die Begeisterung der Kinder für alles, was fliegt, teilte, und kurze Zeit vor Jacks Unfall eine Reise antrat – zum Mond, wie er und die Mutter den Kindern erzählten, – irgendwo anders hin, wie man als Leser sofort erkennt, denn schließlich kann man vom Mond aus keine Briefe schicken. Da Tom und Jack ihren Vater lange nicht gesehen haben und sich sehr nach ihm sehnen, ist das Ziel ihrer Flucht klar: Sie wollen zum Meer, wo er sehr wahrscheinlich gelandet sein muss.
Ungewöhnliche Erzählperspektive
Die erste – und deutlichste – Auffälligkeit an We Used to Be Kings ist die Erzählperspektive: die Handlung wird über weite Teile aus der ersten Person Plural erzählt, denn schließlich teilen Tom und Jack sich nicht nur einen Körper, sondern auch eine Geschichte. Dabei wird jedoch deutlich, dass es Tom sein muss, der hier für beide spricht, denn die Stimme beider ist detailliert ausgearbeitet und gut zu unterscheiden. Eingeschoben sind immer wieder Dialoge zwischen Tom und Jack, in denen man erkennt, dass Jack in Toms Vorstellung keinen Tag älter geworden ist, und sich die Beziehung zwischen den beiden Brüdern kaum verändert hat: Tom hat nach wie vor ein großes Bedürfnis, Jack zu beschützen und für ihn einzutreten, und dieses Bedürfnis ist so stark, dass er den Bruder sogar ganz bei sich und in sich aufgenommen hat. Ganz selten wirkt Toms Stimme zu reif für seine 18 Jahre, zu vernünftig im Hinblick auf seine Geisteskrankheit und zu weltgewandt für einen, der gerade drei Jahre in der psychiatrischen Klinik verbracht hat. Im Gegensatz hierzu ergibt sich jedoch besonders in den Dialogen mit Jack eine Natürlichkeit, die genau den beiden Altersgruppen entspricht und die zwei voneinander unabhängige, sich gegenseitig vertrauende und respektierende Kinder porträtiert.
What’s a palindrome?
It’s a word or a number that reads the same whichever way you look at it.
Like Exeter?
?
Like Exeter?
No, that’s just got lots of ‚e’s in it.
Oh.
Die wechselnden Sprecher und Zeiten werden durch die auffällige Typographie des Romans unterschieden: Jack „spricht“ in Kursivdruck, Rückblenden sind in einer anderen Schriftart gedruckt. So fällt es trotz der verwirrenden Struktur und des verwirrten Erzählers leicht, sich zurechtzufinden und der Erzählung, die natürlich nicht immer zu 100% zuverlässig ist, sondern die Ereignisse aus der Sicht des Kinds wiedergibt, zu folgen.
Aus dieser Sicht ergibt es sich fast zwangsläufig, dass We Used to Be Kings ein paar Logik-Schwächen hat, die man natürlich leichter nachsieht, weil der Erzähler (zumindest zu Beginn) Insasse einer psychiatrischen Anstalt ist. Die Auflösung der Geschichte ist am Ende auf den ersten Blick fast zu banal, mit etwas Abstand jedoch macht sie die Erzählung erst wirklich rund und noch ein wenig melancholischer als sie ohnehin schon ist. Es bleiben dennoch offene Fragen, die weder Tom noch Jack beantworten können und die das ansonsten uneingeschränkte Vergnügen, den beiden Jungs auf ihrem „Road Trip“ zu folgen, ein bisschen trüben. Davon abgesehen lässt sich das Buch allen empfehlen, die ungewöhnliche Erzählperspektiven mögen und gerne Geschichte über das Erwachsenwerden lesen. Denn was man auf jeden Fall kann, ist, sich in Tom, seine Trauer und Hilflosigkeit und sogar in seinen Bruder Jack einfühlen. Und auch, wenn ihre Handlungen natürlich durch mangelnde Reife, begründete und unbegründete Angst sowie fehlende Lebenserfahrung geprägt sind, kann man sie jederzeit nachvollziehen.
We Used to Be Kings ist der Debütroman von Stewart Foster. Der Roman ist Anfang des Jahres bei Randomhouse UK erschienen und bisher nur auf Englisch erhältlich.