Sie sind jung, schön, sportlich, gebildet und haben viel Zeit: In einem Badeort in der Bretagne, im Hôtel des Vagues, treffen irgendwann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sechs Franzosen aufeinander, die schon bald eine lose Gruppe bilden und die Rollen, in denen sie zueinander stehen, festgelegt haben. Irène und Henri sind frisch verheiratet und verbringen ihre Flitterwochen im Hotel, Jacques gibt Geschmack und Aktivitäten der Gruppe vor und entwickelt dabei eine nicht ganz geheime Leidenschaft für Christel, die ihrerseits die unnahbare gibt. Etwas abseits bleiben Gregory, der sich durch seine Minigolf-Fertigkeiten hervortut, und Gérard, ein Literat zu Beginn seiner Karriere, der in die Bretagne gereist ist, um eine Abhandlung über Rimbaud zu verfassen, stattdessen aber vor allem seine Begegnungen mit Christel, die auch ihn in ihren Bann gezogen hat, in seinem Tagebuch festhält.
Ich habe mich ein wenig lustig gemacht über Christel, aber diese leidenschaftliche und so selbstironische Beichte hatte mich gerührt. Es gibt einen warmherzigen und sanften Spott, der auf engster Vertrautheit beruht, einer, die man nicht einzugestehen hat – einen Spott, der aus nichts anderem besteht als dem Bedürfnis, ein Übermaß an Sympathie aufzulösen.
Dieses Tagebuch macht etwa die ersten zwei Drittel von Julien Gracqs Der Versucher aus, und in ihm lesen wir neben verschlungenen Landschaftsbeschreibungen, als Dialogen getarnten Monologen und Betrachtungen über die Liebe und alle anderen zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sich die Dynamik einer Gruppe ändern kann, wenn einzelne Mitglieder „ausgetauscht“ werden. Denn eines Tages kündigt Gregory Gérard gegenüber das Kommen eines alten Bekannten an: Allan, der in Begleitung einer unbekannten Dame erscheinen wird und der sich gleich eine Suite mieten möchte. Gérard, den Christels abweisende Art eigentlich dazu gebracht hatte, seine Reise früher abbrechen zu wollen, bleibt aus Neugier noch im Hotel und ist – wie alle anderen in der Gruppe auch – vom ersten Moment an fasziniert von Allan und seiner Begleitung Dolorès, die im Hotel einziehen wie ein Königspaar.
Zwischen Rimbaud und Goethe
Wie in Goethes Wahlverwandtschaften, die auch in Der Versucher selbst thematisiert und wie viele andere literarische Werke zitiert werden, ändert das Hinzukommen der beiden „Neuen“ die gesamte Dynamik der Gruppe: Christel verliebt sich Hals über Kopf in Allan, Irène erkennt, dass es mit Henri doch nicht so gut läuft wie erwartet, zieht dafür aber das Interesse des von Christel geprellten Jacques auf sich, und Gregory schließlich verlässt das Hôtel des Vagues, allerdings aus einem anderen Grund. Denn von Anfang an umgibt Allan und Dolorès nicht nur ein Hauch von Eleganz, Stolz und Geheimnis, sondern auch der des Todes. Von Gregory erfährt Gérard, dass Allan schon als Kind vom Tod fasziniert war, und ständige Anspielungen auf Werther und sein verschwenderisches Verhalten lassen die Gruppe schnell erahnen: Allan ist in den Badeort gekommen, um sich dort das Leben zu nehmen, und Gregory möchte dies auf keinen Fall erleben.
Im so treffend benannten Hôtel des Vagues (vagues heißt Wellen, aber eben auch vage), bleiben die Beziehungen der einzelnen Figuren untereinander unkonkret und wechselhaft. Auch alles andere ist nicht zu fassen: die Landschaft, Allans Selbstmordabsichten, die Pläne der einzelnen, alles bleibt offen, vage. Dazu passt es auch, dass mitten in Der Versucher die Erzählperspektive von Gérards Tagebuch zu einem allwissenden Ich-Erzähler wechselt, der die Geschichte zu Ende erzählt, selbst aber anonym bleibt.
Der Versucher ist der zweite Roman von Julien Gracq, und der letzte, der nun ins Deutsche übersetzt wurde. Gracq, der von 1910 bis 2007 in Frankreich lebte und dort trotz seiner Zurückgezogenheit vom Literaturbetrieb (er lehnte beispielsweise 1951 den Prix Goncourt für seinen Roman Le Rivage des Syrtes/Die Ufer der Syrten ab, um seiner allgemeinen Skepsis der Literaturszene und den Literaturpreisen gegenüber Ausdruck zu verleihen) bedeutenden Einfluss auf die zeitgenössische Literatur hatte und hat. In Deutschland ist er bislang weniger bekannt, was zum Teil auch darauf zurückzuführen ist, dass viele seiner Werke erst recht spät übersetzt wurden. Da nun das Gesamtwerk in Deutsch vorliegt, kann ein jeder diese Lücke schließen. Der Versucher ist dazu bestens geeignet – über die äußerst differenzierte Geschichte über Gruppendynamiken, Gesellschaftsstrukturen und Selbstmord hinaus fasziniert vor allem Gracqs Sprache, die sowohl bei seitenlangen Landschaftsbeschreibungen als auch bei philosophischen Betrachtungen den Leser durch starke Bildgewalt in den Bann zieht und die darüber hinaus hervorragend übersetzt ist. Ein französischer Klassiker zum (Wieder-)Entdecken ist Der Versucher allemal.