Normalität ist keine feste Bezugsgröße, sondern das, woran man sich gewöhnt hat. Für die 13jährige Lipa besteht die Normalität aus Arbeit und Unternehmertum, denn gemeinsam mit Vater und Bruder unterhält sie einen Familienbetrieb. Ihre Stelle als Assistentin, in der sie genauestens Buch über das Geschäft führt, hat ihr schon mehrfach die Auszeichnung als Mitarbeiterin des Monats eingebracht, was bei nur zwei Mitarbeitern zugegebenermaßen nur eine Frage der Zeit ist. Dennoch ist Lipa ganz besonders froh, dass sie nicht wie viele Gleichaltrige arbeitslos ist und ihre Tage in der Schule verbringen muss.
Natürlich hat auch Lipas jüngerer Bruder Berti in seiner Funktion als „Spezial“ – im Grunde derjenige, der die eigentliche Arbeit macht – oft preisverdächtige Leistungen erbracht, ganz sicher beispielsweise in dem Monat, in dem er seinen Arm an die Arbeit verlor. Denn ganz risikolos ist das Unternehmen der Familie nicht: Da Rohstoffe knapp sind, fährt der Vater seine Kinder durch die brachliegenden Industriehallen des Schwarzwalds, um verwertbares Material zu sammeln und beim Schrotthändler zu Geld zu machen, der das Ganze nach Asien verschifft, wo es noch eine florierende Wirtschaft und Menschen mit genügend finanziellen Mitteln gibt, dass sie als Abnehmer für Technik in Frage kommen. Doch der Einsatz von Zeit, Kraft und sogar Körperteilen lohnt, denn, so der Vater, die Familie wird in nicht allzu ferner Zukunft von dem „Klimpergeld“, dass der Verkauf der geborgenen Materialien bringt, nach Neuseeland auswandern, wo es noch andere Nahrung gibt als verrunzelte Kartoffeln und Möhren.
Euphemismus-geflutete Welt
Lipa, aus deren Sicht Unternehmer erzählt ist, findet ihre Welt so normal, dass sie auch dem Leser zunächst nicht ungewöhnlich vorkommt, und tatsächlich ist Lipas Leben zwar nicht hier, aber doch in anderen Teilen der Welt, durchaus schon heute Realität. Der Kontrast zu unserer empfundenen Normalität kommt eher durch eine geographische Verlagerung zustande und das Prosperieren der einen Wirtschaft auf Kosten einer anderen ist so plausibel und so oft geschehen, dass es keiner weiteren Erklärung bedarf. Dass ausgerechnet das Festhalten an einer zu Grunde gegangenen Organisationsform – dem Unternehmertun – als einziges Heilsversprechen und Chance auf Besserung gesehen wird, ist am Ende nur konsequent.
Spätestens seit George Orwells 1984 weiß man, welchen Einfluss Sprache auf die subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit hat, welche Möglichkeit tolle Worte für nicht so tolle Sachen bieten, einen Unterdrückten seinen Unterdrücker umarmen zu lassen. Und so ist auch das erste und sicherste Anzeichen, dass man in Unternehmer eine dystopische Welt und (Mikro-)Gesellschaft betritt, die Flut an Euphemismen, mit der Lipa und ihrem Bruder ihr fremdbestimmtes und ungerechtes Leben schmackhaft gemacht wird, und natürlich ist „Unternehmer“ der zentralste davon. Gerade die Tatsache, dass die dystopischen Elemente fast unbemerkt eingestreut werden, dass Lipas Welt sich nicht so sehr von unserer eigenen unterscheidet, macht Unternehmer zu einem besonders eindrücklichen Zeugnis eines Glaubens an die Macht der Wirtschaft, der in unserer Gegenwart wurzelt.
Unternehmer ist nach Wir zwei allein der zweite Roman von Matthias Nawrat, aus dem er auch 2012 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur las und mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet wurde.
Unternehmer ist nominiert für den Deutschen Buchpreis 2014.