Seine Rückkehr ist als einmaliger Ausflug in die Vergangenheit gedacht, als notwendiger Schritt, um endgültig mit der Vergangenheit abschließen zu können. Der Erzähler in Martin Beckers Debütroman Der Rest der Nacht, ein junger Mann, kehrt in seine Heimat zurück, eine Kleinstadt, die, namenlos wie er selbst, überall in der deutschen Provinz liegen könnte. Er will sein Elternhaus, das seit dem Tod des Vaters vor einem Jahr leer steht, an die das Leben in der Stadt prägende Zigarettenpapierfabrik verkaufen, die ganzen Erinnerungsstücke loswerden und die letzte Verbindung zu seiner Kindheit kappen. Seit dem Tod des Vaters kann der junge Mann kaum noch schlafen, nie mehr als ein oder zwei Stunden je Nacht, vor allem nicht, wenn er allein ist. Manchmal geht er zu Prostituierten, neben denen er einschlafen kann, doch dieses Verhalten irritiert so sehr, dass man ihn bald nicht mehr vorlässt.
Das Haus des Vaters ist nicht der einzige Grund für den Besuch in der einstigen Heimat, denn auf dem Plan des Erzählers steht außerdem, Sterbehilfe zu leisten, was kein leichtes Unterfangen ist, da die Dame, der diese Gefälligkeit dienen soll, alt und verwirrt ist. Und so quartiert er sich im Hotel des Orts ein, schließt Freundschaft mit dem Nachtportier, der dem jungen Mann für seine Mission diverse Verkleidungen besorgt und lernt in einer Bar Maria kennen, in die er sich verliebt. Der Aufenthalt in der Stadt gestaltet sich länger als geplant; in der Zigarettenpapierfabrik ist niemand aufzutreiben, der ihm den Grund dafür nennen kann, dass das Dach des zum Verkauf stehenden Hauses plötzlich neu eingedeckt wird, weil der Großherzog sich zum Besuch angekündigt hat, der junge Mann wird versehentlich verhaftet und wieder freigelassen und trifft seinen ältesten Freund Rottweiler wieder, der versucht, sein Leben für eine Frau völlig zu ändern.
Roman über das Abschiednehmen
Das große Thema in Der Rest der Nacht ist der Abschied, von Eltern, von Freunden, von seiner eigenen Kindheit und Jugend. Dabei geht Beckers Hauptfigur nicht immer zimperlich mit sich selbst und seinen Mitmenschen um, reagiert nicht fürsorglich-gefühlvoll auf den Tod des Vaters, sondern verstört, wütend, egoistisch – und damit umso nachvollziehbarer, denn die Situation, in die er da kommt, überfordert ihn restlos, treibt ihn an den Rand dessen, was er ertragen kann. Der Titel Der Rest der Nacht bezieht sich vor allem auf die lebensverändernde Nacht, in der der Protagonist seinen Vater verliert. Diese Nacht ist detailliert und aus einer anderen Perspektive – der eines auktorialen Erzählers, der im Plural spricht – geschildert und in einzelnen Zwischenkapiteln immer zwischen die eigentliche Handlung eingeschoben. Vieles dessen, was die Hauptfigur bei ihrer Reise in der Heimat tut, findet seine Erklärung in dieser einen langen Nacht, seit der er nicht mehr schlafen kann, die also quasi immer noch nicht zu Ende ist. Dabei erklärt sich nicht alles, was in diesem Roman passiert, vieles bleibt mysteriös und muss einfach so akzeptiert werden – von Erzähler und Leser gleichermaßen. Die Versuche des Erzählers, endlich mit jemandem in der Zigarettenpapierfabrik zu erreichen, um über den Verkauf des Hauses zu sprechen und der im Ort so sehnsüchtig herbeigewünschte Besuch des Großherzogs erinnern in ihrer Absurdität und Ohnmacht gegenüber undurchsichtigen Strukturen an Kafka.
Der Rest der Nacht ist ein melancholischer Roman über die Schwierigkeiten des Abschiednehmens, das am Ende nicht annähernd so einfach ist wie die Hauptfigur es sich vorgestellt hat.