Cover zu „Asterios Polyp“
Manche Menschen benötigen so etwas wie einen Blitzschlag, um aufzuwachen. Asterios Polyp benötigt sogar einen ganz realen. Seine Wohnung in Manhattan ist verwahrlost, er ebenso, und während er auf dem Bett liegt und sich Videos aus besseren Zeiten ansieht, steigert sich das Gewitter vor seinem Fenster zu einem wahren Unwetter. Bis der Blitz einschlägt, Asterios Polyp in größter Hast drei Dinge zusammenrafft und flieht, um dann dabei zuzusehen, wie sein Zuhause in Flammen aufgeht. Mit dem Bus fährt er so weit, wie ihn das letzte Geld, das er bei sich trägt, bringt. Dort, in der Provinz, fängt er ein völlig neues, völlig anderes Leben an. Er sucht sich einen Job als Automechaniker. Zum ersten Mal in seinem Leben setzt er nicht nur seinen Kopf, sondern auch seine Hände ein.
Vom Architekten zum Automechaniker
Doch natürlich gab es ein Leben vor dem Blitzeinschlag, und vor allem von diesem Leben erzählt David Mazzuchelli in seiner Graphic Novel. Die Rückblenden, die einen Eindruck von Asterios Polyp vor seinem persönlichen Blitzeinschlag vermitteln, reichen bis zur Zeit seiner Geburt zurück. Das ist wichtig, denn eigentlich hat Asterios einen Zwillingsbruder, Ignazio, der jedoch tot zur Welt gekommen ist, und nun, da Asterios Polyp von allen verlassen ist und alles verloren hat, der einzige ist, der die Geschichte seines Bruders noch erzählen kann.
Und eigentlich ist das eine traurige Geschichte. Asterios Polyp ist ein Genie, hochintelligent, voller Ideen für ungewöhnliche Gebäude – die jedoch auf dem Papier bleiben, weil sie fast schon zu ungewöhnlich für die Realität sind. Sein Selbstbewusstsein ist stark genug ausgeprägt, dass man es schon als Selbstverliebtheit bezeichnen kann.
Kein Platz für jemand anderen neben Asterios Polyp
Seine Hochschulkarriere führt ihn durch die Betten von Kolleginnen und Studentinnen, aber gerne auch auf Partys, auf denen er das macht, was er am besten kann – im Mittelpunkt stehen. Auf einer solchen Party lernt er seine spätere Ehefrau kennen: Hana Sonnenschein, Tochter einer Japanerin und eines Deutsch-Amerikaners, begnadete Künstlerin, aber viel zu unsicher, um das selbst zu merken. Die beiden ergänzen sich fantastisch. In ihrer zurückhaltenden Art ist Hana das perfekte Publikum für Asterios. Und sie erhält zum ersten Mal überhaupt ein wenig Aufmerksamkeit, wenn es auch nur die ist, die eigentlich ihm zufällt. Dabei ist neben so viel Ego kaum Platz für jemand anderen. Und genau daran zerbricht die Beziehung der beiden.
Dass die Ehe nicht hält, erfährt man bereits auf den ersten Seiten. Zum Zeitpunkt, als der Blitz einschlägt, lebt Asterios Polyp alleine und trauert der Zeit mit Hana nach. Die wirklichen Gründe für das Scheitern der Beziehung arbeitet er jedoch erst bei seiner neuen Tätigkeit als Automechaniker auf. Erinnerungen an die besseren Zeiten, die bedingungslose Nähe, die eine Ehe mit sich bringt, und an die Fehler, die er in seiner Selbstverliebtheit begangen hat, durchlebt man mit ihm.
Philosophische Betrachtungen mit Asterios Polyp
Neben der wunderschönen und traurigen Geschichte des Scheiterns einer Liebe und der späten Erkenntnis ist Asterios Polyp eine Fundgrube philosphischer und literarischer Andeutungen. Griechische Sagen werden zitiert. Der Konstruktivismus fließt ein. Und nicht nur Ignazio ist ein Symbol für den Dualismus, der sich immer wieder in dieser Graphic Novel findet.
Auch in der Form fällt Asterios Polyp gegenüber allem, was ich bisher gelesen habe, aus dem Rahmen. Farben und Linienführung dienen nicht nur der Illustration der Geschichte, sondern haben einen eigenen informativen Gehalt. Die Unterschiede zwischen Hana und Asterios zeigen sich auch darin, dass sie in völlig verschiedenen Stilen und unterschiedlichen Farben gezeichnet sind – und diese Unterschiede nehmen zu, je mehr ihre Ehe auseinander bricht. Jede Figur hat ihr eigenes Lettering und erhält damit eine eigene Art zu sprechen.
Emotionale Betrachtungen über Liebe und Nähe
Die Seiten, auf denen die Liebe zwischen Hana und Asterios in all ihren Höhen und Tiefen dargestellt wird, gehören zum Schönsten, was ich je in einer Graphic Novel gesehen und gelesen habe. Eine Blase am Fuß erinnert Asterios an die vertraute Zweisamkein mit Hana. Und diese wird im Schnelldurchlauf nachgestellt, mit so viel Intimität, Nähe, Humor und Traurigkeit, dass man den Verlust von Asterios Polyp nach dem Anschauen der Bilder ganz deutlich selbst spürt. Und glücklich ist, über jeden Moment der Nähe und Zweisamkeit, der einem selbst im Leben beschieden ist.
Diese Detailverliebtheit überzeugte auch die Kritiker. Zu Recht wurde Asterios Polyp mit Preisen überhäuft, darunter drei Eisner Awards, den wichtigsten Preisen für Graphic Novels.
Auch beim zweiten oder dritten Lesen entdeckt man noch zahlreiche Details. Die Geschichte berührt auch dann noch, wenn man ihr Ende bereits kennt. Der rational kalkulierende Asterios Polyp schafft es dann auch, eine ganze Menge an Emotionen beim Lesen auszulösen.
Asterios Polyp ist eine Graphic Novel, die die Freude am Lesen, die Lust auf eine tolle Geschichte und den Spaß am Ansehen der Zeichnungen perfekt kombiniert. Entsprechend ist dieser Band einer meiner absoluten Favoriten des Genres. Er eignet sich auch sehr gut zum Einstieg für all jene, die mit Graphic Novels bisher nicht viel anfangen konnten.
David Mazzuchelli hat neben Asterios Polyp gemeinsam mit Frank Miller verschiedene Batman-Comics herausgebracht. Außerdem hat er eine Comic-Variante von Paul Austers Stadt aus Glas gezeichnet.
Infos zum Buch
Asterios Polyp
David Mazzuchelli
344 Seiten
Erstausgabe 2011 beim Eichborn Verlag
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