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Persönliche Zeitreise zur Schuld der eigenen Familie

von Yvonne

Wer sich als Deutscher mit seiner Herkunft auseinandersetzt, kommt nicht umhin, sich mit der Verknüpfung zwischen Landes- und Familiengeschichte auseinanderzusetzen und der Frage nach zu gehen, welche Rolle die eigenen Vorfahren im Dritten Reich spielten. Diese Frage treibt auch Anne Weber um, doch anders, als man vielleicht erwarten könnte, schaut sie nicht auf die Generation der Täter und Mitläufer, sondern geht noch einen Schritt weiter zurück in die Vergangenheit und versucht, sich ihrem Urgroßvater, Florens Christian Rang, zu nähern. Dieser war ein zu seiner Zeit nicht völlig unbedeutender Denker mit seltsamer Vita – zunächst Jurist, dann Pfarrer, dann die Religion bekämpfender Philosoph – und unter anderem mit Hugo von Hofmannsthal und Walter Benjamin gut bekannt bis eng befreundet.

Diesem Ahnen, den sie ihm Buch Sanderling (fast wie Sonderling) nennt, spürt sie nach, indem sie nach Polen reist, Archive durchsucht und ihren Vater befragt. Was sie findet, ist ein in seinen Werten relativ gefestigter, reflektierter Mann, der nur ein Mal – ein Mal zu viel allerdings – eine Äußerung tätigt, die vorweg nimmt, was nach seinem Tod in Deutschland geschehen wird: Bei einem Besuch in einer Psychiatrie fragt er sich (und den anwesenden Arzt), warum man die Patienten überhaupt am Leben erhält – eine Vorwegnahme der Euthanasie, die im Dritten Reich das Morden in den Gaskammern einläutete.

Zeitreisetagebuch zu den eigenen Ahnen

Was Anne Weber vor allem herausfinden will, ist, wie ihr Urgroßvater stellvertretend für seine Generation die Weichen stellte für SS, Konzentrationslager und den 2. Weltkrieg. Denn sein Sohn, Webers Großvater, hatte seinen Anteil an den Schrecken des Dritten Reichs, war zwar zu alt, um selbst aktiv mitzuwirken, beging seine Taten aber vom Schreibtisch aus

Tastend, mehr ahnend als wissend (daher die Doppeldeutigkeit des Titels) und immer wieder hinterfragend nähert sich Anne Weber in diesem poetischen Essay der Generation „vorher“ und versucht, herauszufinden, was diese zu den Greueln des 20. Jahrhunderts beigetragen hat oder auch nur hat geschehen lassen. Gerade diese Sichtweise ist es, die Ahnen so einzigartig und wichtig macht: denn Geschichte fängt ja nicht zu dem Zeitpunkt an, indem die Ereignisse, an die sich später alle erinnern, geschehen, sondern viel früher, in dem Moment, in dem die Weichen gestellt werden, in dem die Gedanken gedacht werden, die später in die Tat umgesetzt werden.

Dieses sehr persönliche Tagebuch steht stellvertretend für die eigene Auseinandersetzung mit der persönlichen und Familiengeschichte und liest sich spannend wie ein Krimi. Denn die Geschichte, die bis auf wenige bekannte Täter durch eine konturlose Masse repräsentiert wird, erhält hier wieder einen Namen und ein Gesicht, das einen Mosaikstein in dem bildet, was geschehen ist. Und so bleibt die wichtigste Aussage des Romans, das Geschichte nicht von „der Gesellschaft“ oder „der Masse“ gemacht wird, sondern von einzelnen Menschen, die Rampen bauen, Maschinen bedienen oder ihren Kindern die falschen Werte mitgeben.

Anne Weber verließ mit 18 Jahren die deutsche Heimat in Richtung Paris und lebt seither dort. Ahnen ist ihr neunter Roman.

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