Einer Hauptfigur wie Natalie Reinegger begegnet man nicht oft im Leben. Die 21jährige, die gerade ihre Ausbildung zur Pflegerin abgeschlossen hat, lässt als Maßstab für ihr Handeln und Denken weder Normen, die Meinung anderer oder Rationalität gelten, sondern denkt grundlegend und immer selbst. Das kann schon mal dazu führen, dass sie einen Taxifahrer anweist, einem Heißluftballon zu folgen, oder dass sie ihre eigenen Essgeräusche aufnimmt, um sie später beim Joggen oder Fahrradfahren anzuhören, damit sie lästige Ohrwürmer los wird. Eine kurze Zeit in einer Sekte hat sie ebenfalls hinter sich. Dass Natalies Gehirn anders funktioniert als das anderer Menschen, hat sie schon als junges Mädchen gelernt. Regelmäßige epileptische Anfälle haben sie immer wieder für einige Minuten aus dem normalen Gedankengefluss gerissen und ihr – wie ihre Mutter es nannte – eine mentale Pause verschafft.
Mittlerweile ist Natalie seit einigen Jahren anfallfrei, hat sich gerade von ihrem Freund Markus getrennt und ihre erste Stelle in einem Heim für betreutes Wohnen angetreten. Von der noch ungewohnten Arbeit erholt sie sich, indem sie in einem „Open Space“ abhängt, in irgendwelchen dunklen Ecken der Stadt wildfremde und freudig überraschte Männer mit Blow-Jobs beglückt, eine streunende Katze umsorgt oder mit ihrem Ex-Freund eine Kunst daraus macht, zusammenhanglose Chat-Gespräche zu führen. Überhaupt spielt das Internet und die dazugehörige Technik eine große Rolle in Natalies Leben. Ihr iPhone ist immer dabei, mit ihm hört sie Musik, chattet sie, macht Bilder und zeichnet Gespräche auf. Ein Leben ohne dieses Gerät ist für sie wie auch für alle Menschen in ihrem Umfeld nahezu unvorstellbar._
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre – in der alles zerdacht, zerredet und uminterpretiert wird
Zu Natalies Freude und Überraschung bringt man ihr im Wohnheim schon sehr bald viel Vertrauen entgegen. Sie wird Bezugsbetreuerin unter anderem von Herrn Dorm, einem Patienten im Rollstuhl, den eine bewegte Vergangenheit ins betreute Wohnen gebracht hat. Herr Dorm ist Stalker. Das Subjekt seiner Begierde, Chris Hollberg, hat er über mehrere Monate hinweg mit Briefen und Besuchen drangsaliert. Während Herr Hollberg damit klar kam, hielt seine Frau den Stalker nicht mehr aus – und nahm sich das Leben.
Mittlerweile hat man für Dorm jedoch ein „Arrangement“ gefunden. Natalie wird ungewollt Teil des Ganzen, ohne es jedoch wirklich zu verstehen. Alles, was sie weiß, ist, dass Hollberg Dorms größten Traum erfüllt und ihn regelmäßig im Heim besuchen kommt. Bei diesen Treffen ist Natalie nun immer zugegen. Und bald schon stellt sie fest, dass Hollberg sicher nicht aus reiner Herzensgüte vorbeischaut.
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ist ein mehr als 1.000 Seiten anhaltender Stream of Consciousness einer eigenwilligen und manchmal auch etwas naiven Protagonistin, die ein echtes Kind ihrer Zeit ist. Natalie zieht eine Chat-Kommunikation einem „normalen“ Gespräch vor, kann ohne ihr iPhone nicht leben und ist ohne Internet sozial ziemlich isoliert. Dass sie Halt in einer Sekte gesucht hat, wundert einen nicht mal, und das Wohnheim mit seinen klaren Strukturen und Ritualen erinnert selbst an eine – sozial akzeptierte – Form einer Sekte. Immer wieder sucht Natalie Mittel, ihren Gedankenstrom aktiv zu unterbrechen, ins Absurde zu treiben oder mit Musik zu unterlegen. Bis ins kleinste Detail zerdenkt sie sonst nämlich alles – und übersieht doch manchmal sehr offensichtliche Zusammenhänge.
Auch die Menschen in Natalies Umfeld leiden unter sozialer Isolation. Bruder Karl ist irgendwo in Dänemark, die Mutter lebt nach der Trennung vom Vater allein, und Markus hofft auf eine Versöhnung mit Natalie. Nicht nur für Herrn Dorm ist Stalking eine absolut vertretbare Lösung, um einem geliebten Menschen näher zu sein. Doch die Bindungen, die eingegangen werden, sind allesamt lose oder finden lediglich in der Phantasie des einen oder anderen Beteiligten statt.
Den größten Einfluss auf sein Gegenüber hat Herr Hollberg. Und er setzt Natalie damit regelrecht zu. Dabei bedient er sich einer Methode, die Autor Clemens Setz selbst in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre anwendet: Er erzählt Geschichten mit „luminous details“, Details, die nichts zum Fortgang der Geschichte beitragen, dem Zuhörer (oder Leser) aber lange im Gedächtnis bleiben. Und er nutzt einprägsame Metaphern. Setz‘ Roman übertrifft mit der Anzahl und der Besonderheit seiner Bilder sogar jeden Juli Zeh-Roman.
Draußen fuhren Autos vorbei, nicht viele, aber immer wieder eines, und es geschah genau im selben Takt, in dem Buchseiten umgeblättert werden.
Diese Bilder sind es, die einen beim Lesen immer wieder – im positiven Sinne – aus dem Fluss bringen und innehalten lassen. Und sie geben Hollberg – und später auch Natalie – die Macht, ihr Gegenüber zu beeinflussen.
Insgesamt ist Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ein Roman, der einen schon auf Grund seiner Länge eine ganze Zeitlang beschäftigt, denn leicht zu lesen ist dieses Buch sicher nicht. Es nimmt einen mit auf eine Reise in die teils bizarre Gedankenwelt seiner Protagonistin und enthüllt dabei die Facetten des getroffenen Arrangements – und schon die Wahl dieses Worts lässt erahnen, dass dies ein Kompromiss für jeden Beteiligten ist.
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015.