Wer heute mit 10 kein Handy hat, mit 15 den Kontinent noch nicht verlassen und mit 20 noch nicht im Ausland gelebt hat, hat das sichere Gefühl, etwas vom Leben verpasst zu haben. Wie neu, wie unerwartet und unnatürlich diese Entwicklung des globalen Menschen ist, zeigt Robert Seethalers Roman Ein ganzes Leben.
Andreas Egger kommt als etwa Vierjähriger zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Hof seines Onkels. Er passt nicht mehr ins Leben seiner Mutter, die ihn unehelich zur Welt gebracht hat, und dass der Onkel ihn nicht direkt vor der Kirche aussetzt liegt nur daran, dass Egger einen Beutel mit Geld um den Hals trägt. Das Bergdorf, in das er kommt, wird die Heimat für sein Leben, und nicht nur die Geographie setzt ihm enge Grenzen der Entwicklung, sondern auch sein eigener Körper. Der Onkel verprügelt ihn eines Tages so, dass Eggers Bein bricht und schief zusammenwächst – das darauffolgende Hinken wird ihn sein Leben lang begleiten.
Er dachte langsam, sprach langsam und ging langsam, doch jeder Gedanke, jedes Wort und jeder Schritt hinterließen ihre Spuren, und zwar genau da, wo solche Spuren seiner Meinung nach hingehörten.
Ein ganzes Leben an einem Ort
Eggers Leben verläuft ansonsten ereignisarm, bis er Marie kennenlernt, mit der er eine kurze glückliche Zeit hat und die er viel zu schnell wieder verliert. Das einzige Mal, dass er sein Dorf wirklich verlässt, kämpft er im Krieg, und auch da gibt er weit mehr als er vom Leben zurück bekommt.
Überhaupt verwirrte ihn die Zeit. Die Vergangenheit schien sich in alle Richtungen zu krümmen und in der Erinnerung gerieten die Abläufe durcheinander beziehungsweise formten und gewichteten sich auf eigentümliche Weise immer wieder neu. Er hatte viel mehr Zeit in Russland verbracht als gemeinsam mit Marie, und doch schienen die Jahre im Kaukasus und in Woroschilowgrad kaum länger gewesen zu sein als die letzten Tage mit ihr.
Ein ganzes Leben ist ein kurzes und melancholisches Büchlein über ein Leben, das vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden haben könnte und doch so verschieden ist von allem, was wir kennen. Andreas Egger, der ein beschauliches, ruhiges, unaufgeregtes Leben in den Bergen führt, erwartet nichts vom Leben und wird so nie enttäuscht, sondern nur positiv überrascht. Trotz seines extrem kurzen Umfangs hat der Roman jedoch die ein oder andere Länge, was möglicherweise auch daran liegt, dass diese Beschaulichkeit moderne Lesegewohnheiten ebenso hinterfragt wie Internet, Globalisierung und den Drang zur persönlichen Optimierung. Am Ende ist Ein ganzes Leben jedoch vor allem ein versöhnliches Buch über jemanden, der zufrieden ist darüber, gelebt zu haben – und von dieser Einstellung kann man sich gerne eine Scheibe abschneiden.
Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.
Ein ganzes Leben ist nominiert für den Man Booker International Prize 2016 (Shortlist).