Es ist das Jahr 2031. Leider hat sich die Zukunft nicht so entwickelt, wie die Menschheit sich das erhofft hat. Über Deutschland stürmen regelmäßig Tornados, wenn es nicht gerade 35 Grad heiß ist, die Menschen aus anderen Teilen der Welt versuchen, in diese vergleichsweise noch verschonten Gebiete zu fliehen und die Optimisten unter den Menschen geben sich selbst und dem Planeten noch eine Lebensdauer von zehn Jahren.
Doch es gibt auch Positives. Das Leben ist dank ständig verfügbarer Technik und Information sehr einfach geworden. Die Pharma-Industrie hat außerdem mit Ephebo den Traum eines jeden Menschen über 30 auf den Markt gebracht: Ein Medikament, dass den Körper seines Nutzers jünger werden lässt – je nach Dosierung selbst bis auf ein jugendliches Alter. Um es nehmen zu dürfen, muss man zwar auf eine medizinische Behandlung im Falle einer Krebs-Erkrankung verzichten, aber was ist schon die Aussicht auf Krebs im Vergleich zu ein paar Momenten mehr Jugend. Immerhin geht die Welt ja sowieso bald unter.
Den ganzen Umwelt-Quatsch hat die Menschheit durch eine unkonventionelle Methode zu lösen versucht. Da jahrhundertelange Machtgier, Wettbewerbsstreben und ständiges Wachstum sich am Ende doch nicht ausgezahlt haben, setzt man seit einigen Jahren auf weiblichere Eigenschaften in der Regierung und hat den Staatsfeminismus verordnet, so dass mindestens 40% aller Regierungspositionen mit Frauen besetzt werden müssen. Dass eine Quote von weniger als 50% als Feminismus gilt, lasse ich mal unkommentiert.
Staatsfeminismus als Mittel gegen männliche Macht
Doch die Maßnahmen, die die männlichen und weiblichen Ministerinnen und Bundeskanzlerinnen angeschoben haben, verzögern den Prozess des Untergangs nur. Zwar hat jeder Bürger nur noch begrenzte CO2-Punkte für Fleisch, Benzin und Flugreisen zur Verfügung. Doch dies kommt wie so vieles viel zu spät, um wirklich noch einen Umschwung zu erreichen.
Sebastian Bürger ist Ende 60, sieht aber dank Ephebo aus wie Mitte 30. Seit seine Frau, eine Ministerin, vor zwei Jahren verschwunden ist, leben seine beiden Kinder die meiste Zeit bei seiner Schwiegermutter. Sebastian verbringt seine Zeit stattdessen damit, sein altes Elternhaus wieder herzurichten. Ihm fehlt die „gute alte Zeit“. Und so versucht er, den Charme der 1970er im Hamburger Stadtteil Wellingstedt wieder auferstehen zu lassen. Sein Geld verdient er als Pressesprecher der Demokratie-Zentrale, in der mögliche politische Kandidaten auf ihre charakterliche Eignung überprüft werden.
Kurz, bevor Sebastian sein „Ego-Smart“ abschaffen kann, erreicht ihn darüber die Einladung eines ehemaligen Mitschülers zum 50jährigen Klassentreffen. Auch wenn Sebastian eigentlich keine Lust auf „mein Haus, mein Job, mein Ephebo-gestählter Körper“ hat, geht er doch hin, weil er hofft, seinen Jugendschwarm Elli wieder zu treffen.
Elli ist auch tatsächlich zugegen, sieht immer noch umwerfend und nur wenige Jahre älter als damals aus und – Sebastian kann sein Glück kaum fassen – verliebt sich sogar in den ehemaligen Mitschüler.
Alles könnte perfekt sein, wenn Sebastian nicht vor zwei Jahren seinen eigenen Weg aus der frauendominierten Welt gesucht hätt. Denn seine Frau, die alle Welt für entführt oder tot hält, hält er im hauseigenen Keller gefangen, um ihr zu demonstrieren, dass das korrekte Machtverhältnis in einer Beziehung – aber auch in der Gesellschaft – immer zugunsten des Mannes ausschlägt.
Die Macht gehört dem, der sie sich nimmt
Das Ideal des durchschnittlichen westlichen Mannes ist eine Frau, die sich aus freien Stücken unter seine Herrschaft begibt, die seine Ideen nicht ohne Diskussion hinnimmt, aber seinen Gründen nachgibt, ihm ganz gescheite Gegengründe entgegensetzt, um sich schließlich überzeugen zu lassen.
(Simone de Beauvoir)
Die Dystopie, die Karen Duve in Macht entwirft, nimmt wirklich all unsere gesellschaftlichen Probleme und führt sie zu einem logischen und dennoch (oder gerade deswegen) schrecklichen Höhepunkt fort: Naturkatastrophen sind so alltäglich geworden, dass man sich kaum noch dagegen versichern lassen kann, am Buffet freut man sich darüber, dass es kurz vorm Aussterben stehende Schollen gibt, religiöse Fanatiker entdecken das Tieropfer für sich neu und im Fernsehen läuft Werbung für Elch-Fleisch als Geldanlage – schließlich gibt’s den bald auch nicht mehr. Motorrad-Gangs schließen sich zusammen, um Lämmchen zu retten und gegen die Unterdrückung durch die Frau aufzubegehren – die vor allem darin besteht, sich selbst nicht mehr unterdrücken zu lassen und Fahrradhelme zur landesweiten Pflicht zu erheben.
In dieser Situation erhebt sich also Sebastian gegen eine gefühlte Ungerechtigkeit. Und das erschreckende an Macht ist, dass die Perspektive, aus der der Roman erzählt wird, einen enormen Einfluss auf die eigene Wahrnehmung hat. Denn bis zu einem gewissen Punkt ist Sebastian echt ein netter Kerl, der lange Vegetarier war und dann sogar Veganer. Und jetzt hat er eben keine Lust mehr, fünf Jahre vorm Weltuntergang noch auf Fleisch zu verzichten. Es hat ja eh keinen Sinn mehr. Dass seine Kinder ihm auf die Nerven fallen, kann man gut verstehen. Und – hey – wer würde keine Jugendpillen einwerfen, um sich noch mal wie zwanzig zu fühlen – und auch so auszusehen?
Hauptsache, man rechtfertigt sich vor dem eigenen Wertesystem
Dieser zwar etwas nervige und miesepetrige, aber doch zumindest in seinen meisten Handlungen und Emotionen nachvollziehbare Zeitgenosse hat es vor seinem eigenen Wertesystem für sich gerechtfertigt, seine Frau im Keller gefangen zu halten, sie zu schlagen und auch alle anderen Dinge zu tun, die man sich in einem solchen Szenario vorstellen kann. Und er rechtfertigt es auch vor seine Frau und natürlich vorm Leser. Und obwohl das Lesen seiner Innenwelten oft an die Grenzen des Erträglichen führt, zuckt man trotzdem zusammen, wenn der Postbote ihn in einer ungünstigen Situation durch sein Klingeln stört.
Macht ist ein ganz und gar ungewöhnliches Buch, einerseits bezogen auf die dystopische Gesellschaft, die der Roman entwirft – kein Überwachungsstaat engt das Leben der Menschen ein, sondern die Natur, die die Menschheit selbst an den Rande des Zusammenbruchs gebracht hat -, andererseits durch die Perspektive, die einen das Geschehen durch die Augen des Täters erleben lässt (auch wenn dieser sich natürlich als Opfer fühlt).
Mehr als einmal habe ich beim Lesen gedacht, dass ein Mann das so nicht hätte schreiben dürfen, diesen aus Hilf- und Alternativlosigkeit angestauten Frauenhass eines Sebastian Bürger auch noch argumentativ gut verpackt auf die Welt loslassen. Dass es dort dennoch steht, dass die Gedanken, die der auch noch allerweltsmäßig benannte Bürger als Grundlage seiner Taten äußert, vielleicht ein bisschen extrem, aber dann auch wieder nicht so ungewöhnlich sind, ja fast schon salonfähig, zeigt, wie wichtig es ist, dass dieser Roman geschrieben wurde. Denn es sind diese Gedanken, die die Hauptfigur zur Annahme bringen, dass ihre Handlungen gerechtfertigt sind. Und genau mit diesen Gedanken fängt es an. Sei es, dass man annimmt, Klimaveränderungen sind eine normale Entwicklung, Fleisch darf man essen, weil der Mensch über dem Tier steht oder dem Mann steht die natürliche Macht über die Frau zu – weil das eben so ist.