Die Geschichte ist gleichermaßen skurril wie schnell erzählt. Eine junge Frau namens Loribeth erschlägt mit einem Bügeleisen aus Versehen ein Kind mit nervig glänzenden Schuhen. Sie packt es in einen Koffer und macht sich auf Geheiß einer Wahrsagerin auf den Weg, den Koffer samt Kind ihrem Vater zu bringen. Schließlich gehört ihm das Ganze. Unterwegs trifft sie die unterschiedlichsten Menschen, darunter ihren Bruder, den sie daran erkennt, dass er ihr ähnelt.
Seine runden Henkelohren lauschen, und die drei blonden Haare, die an seiner Gurgel spriessen, gucken mich herausfordernd an. Er hat ein hübsches Gesicht, wie ich.
Loribeths Vater wohnt auf einer Insel, und so schleppt sie ihren Koffer durch eine rote Stadt, an stalkenden Doggen vorbei und schließlich auf ein Schiff.
Skurrile Traumwelt in Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch
Sprechende Doggen, ein totes Kind im Koffer, das sich immer mal wieder regt, und Menschen, die aus dem Nichts auftauchen, verschwinden und plötzlich wieder da sind: Dass es in Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch nicht um eine „normale“ Erzählung geht, wird einem beim Lesen schnell klar. Das Gepäck genau wie die gesamte andere Ausstattung des Romans sind symbolisch zu verstehen.
Was schleppst du’s denn mit dir herum, wenn du’s so hasst?, schnieft er und reibt sich die Augen.
Loribeth hat ihrem Vater etwas zurückzugeben, das sie belastet, sie am Fortkommen hindert. Erst, wenn das erledigt ist, kann sie erwachsen werden. Das Motiv „Kinder“ zieht sich denn auch durch den gesamten Roman. Gleich zu Beginn ist Loribeth von Kindern umgeben, die sich wie nervende Erwachsene benehmen. Sie trifft zwei Männer, in die sie sich verliebt, und neben deren Äußeren ist der Hauptunterschied zwischen beiden, dass der eine Kinder hasst und der andere liebt._
Viel Gepäck auf dem Weg zum Erwachsenwerden
Loribeth selbst fühlt sich dem ersten näher. Ihr eigener Hass auf Kinder ist dabei natürlich
auch zu einem guten Stück Selbsthass. Denn an mehr als einer Stelle erkennt man (und sie auch selbst), dass das mit dem Kindsein bei ihr auch noch nicht so lange her ist. Und der zunächst rigoros abgelehnte Gedanke, selbst Kinder zu haben, sie groß zu ziehen, ist eine Weigerung, die Rolle des Kinds selbst aufzugeben und eine andere anzunehmen.
Fast der ganze Roman ist eine Symbolisierung innerer Vorgänge. Die selbstverständliche Abwesenheit direkter kausaler Zusammenhänge erinnert an einen Traum. Dinge passieren, plötzlich ist jemand da, den es eigentlich gar nicht geben kann, oder soziale Gefüge haben sich geändert, ohne dass man dies hinterfragt. Michelle Steinbeck gelingt es dabei absolut überzeugend, Szenarien zu entwickeln, die man so oder so ähnlich selbst schon im Traum „erlebt“ hat. Auch wenn die Geschichte nichts oder wenig mit einem selbst zu tun hat, hangelt man sich beim Lesen von einem Déjà-vu zum nächsten.
Wir fliegen über die Stadt und über braune Berge, die Strassen darauf wie mit Bleistift in Butter gezogen.
Wunderschöne Sprache, ein paar Längen
Natürlich geht es in Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch um innere Vorgänge, und die beängstigende Welt des Unbewussten, der psychischen Entwicklung ist so bildhaft und fantastisch beschrieben, dass man die Szenen direkt vor sich sieht. Steinbeck findet immer wieder neue, originelle Metaphern, die sich einem ins Gedächtnis brennen.
Die ganze Nacht bin ich gerannt, durch Felder und Wälder, immer geradeaus, bis ich zu einer Stadt kam. Da bin ich stehen geblieben und habe die Häuser angeschaut: Blöcke aus rotem Backstein, unverputzt und ohne Fenster, eine eiserne Brücke quer über die Stadt, darüber ein leerer Himmel, der Mond ein Zitronenschnitz.
Die Konsequenz, in der das Innere in eine äußere Welt übersetzt wird, durch die die Hauptfigur sich bewegen muss, erinnert an Filme wie Pans Labyrinth oder The Cell, nur eben ohne Bürgerkrieg und Serienmörder. Leider ist das auch die einzige Schwäche des Romans. Trotz der wunderschönen Sprache, der vielen originellen Bilder fehlt dem Buch eine wirkliche Story. Es passiert tatsächlich nicht viel mehr, als dass Loribeth mit ihrem Koffer zu ihrem Vater geht und unterwegs auf skurrile Menschen trifft. Fesselnd ist das nach einer Weile nicht mehr. Und so schafft das Buch es auf gerade einmal 153 Seiten tatsächlich, zwischendurch zu lang zu wirken. Denn irgendwann hat man die Metapher verstanden. Irgendwann ist klar, dass Loribeth loslassen muss, was sie mit sich herumschleppt, um selbst weiterzukommen. Das ist alles wunderbar zu lesen, aber für einen Roman am Ende doch etwas wenig.
Entschädigt wird man dafür immer wieder mit Einsichten, die zwar nicht komplett neu sind, mit denen man sich aber verbinden kann.
Ich will immer woanders sein, nie da, wo ich gerade bin. Aber nützt das, woanders hinzugehen? Ich nehme mich ja immer mit.
Ungewöhnliche Innensicht des Erwachsenwerdens
Die Stärke des Romans liegt klar in der Genauigkeit der Schilderung innerer Vorgänge. Steinbeck versteht etwas vom Unbewussten, von Träumen und von deren Manifestation in Bildern. Diese durch und durch ungewöhnliche Geschichte vom Erwachsenwerden und Loslassen ist lesenswert für alle, die an Psychologie oder Psychoanalyse interessiert sind. Es ist eine Innensicht des Erwachsenwerdens. Anders als im klassischen Coming-of-Age-Roman setzt die Hauptfigur sich nicht mit ihrer Umwelt auseinander, sondern mit sich selbst.
Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch war nominiert für den Deutschen Buchpreis 2016 (Longlist) und steht aktuell auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis 2016. Ein toller Erfolg für Michelle Steinbecks Debütroman, der diesem besonderen Buch absolut zu gönnen ist.