Es ist schon ein paar Monate her, dass ich I Love Dick von Chris Kraus gelesen habe. Ich habe damals entschieden, keine Rezension über dieses Buch zu schreiben. Die Mischung aus Fiktion und Autobiographie eignet sich meiner Ansicht nach nicht besonders gut für eine Buchbesprechung. Und eine richtige Story gibt es auch nicht. Also nothing to write home oder sonst wohin about. Außerdem habe ich ja schon über das andere Hype-Buch des Jahres geschrieben. Das muss reichen.
Ich finde immer noch, dass I Love Dick sich nicht für eine Rezension eignet. Deswegen schreibe ich auch keine. Es passiert allerdings nicht so oft, dass ein Buch noch wochen- oder monatelang nach dem Lesen beinahe täglich bei mir anklopft und eine Rolle in meinem Leben spielen möchte, weil es noch nicht mit mir fertig ist oder ich nicht mit ihm – wie auch immer.
Da das Schreiben für mich eine wunderbare Möglichkeit ist, mich mit einem Thema auseinanderzusetzen, schreibe ich nun zwar keine Rezension über dieses Buch, aber ich schreibe darüber, was es mit mir gemacht hat. Und immer noch macht. Dieser Artikel richtet sich also nicht an Leser*innen, die sich einen Buchtipp wünschen, in dem möglichst wenig verraten wird, aber alles gesagt, sondern an solche, die I Love Dick schon gelesen haben oder denen es egal ist, wenn sie vorher schon alles wissen, was passiert. Und an alle Frauen und Männer, denn die sind das Thema von I Love Dick.
I Love I Love Dick
Es passiert ja eh nicht so viel, was ich hier verraten könnte. Chris Kraus, Autorin, Künstlerin, Ehefrau von Literatur-Kritiker und Philosoph Sylvère Lotringer, verliebt sich bei einem Abendessen in den gemeinsamen bekannten Dick (Hebdige, falls jemand den Herrn googeln möchte). Fortan ist all ihr (Chris‘) Tun darauf ausgerichtet, Dick ins Bett zu kriegen, um dadurch die logische Folge der Ereignisse auszulösen, die wir ja alle kennen: Nach dem Sex kommt uneingeschränkte Liebe, Zweisamkeit, ewiges Glück, absolute Erfüllung, Erkenntnis über den Sinn des Lebens und das Erreichen der höchstmöglichen Stufe der geistigen Entwicklung.
Erstmal muss Dick jedoch von seinem Glück überzeugt werden, und da Chris und Sylvère eine sehr moderne Beziehung führen, unterstützt er sie bei ihrem Vorhaben (was eine andere, auch sehr traurige Geschichte ist). Beide schreiben Briefe an Dick, rufen ihn an, fahren auch schon mal „zufällig“ bei ihm vorbei. Und irgendwann lässt Dick sich dazu herab, eine Nacht mit Chris zu verbringen. Er tut dies allerdings nicht aus Interesse an der Frau, die sogar ein Kunstprojekt erfindet, um in seiner Nähe zu sein, sondern – wie sich kehlezuschnürend verletzend in den letzten Sätzen des Buchs herausstellt – aus Respekt vor ihrem Ehemann. Und natürlich aus purer Dick-haftigkeit – hier bitte die deutsche Übersetzung der Wahl einsetzen.
Who loves Dick?
Thema von I Love Dick ist also, dass eine Frau, die in dem Bereich, den sie für ihr Leben gewählt hat (Kultur), Erfolg findet, ihre Erfüllung am Ende da sucht, wo sie am schwierigsten zu finden ist – in der Anerkennung durch einen Mann. Ziemlich wenig? Ja. Aber zumindest auch ziemlich aktuell. Und das, obwohl I Love Dick in den USA 1997 erschien und nun nach immerhin zwanzig Jahren von einem Independent Verlag nach Deutschland gebracht wurde.
Der Spaß an der Dreideutigkeit des Titels (Dick = Richard, Schwanz, Arschloch), die es einem unterwegs quasi aufzwingt, das Buch arglosen Mitreisenden unter die Nase zu halten, bis sie endlich den Titel sehen und – vielleicht – verklemmt lachen, ist nur von kurzer Dauer. Dennoch hat Chris Kraus damit das Objekt ihrer Begierde perfekt eingefangen. Er heißt so, hat einen und ist so was von eins. Sie weiß das, und richtet ihr Leben trotzdem oder gerade deswegen nach ihm aus.
I Love Dick: Gedachter und gefühlter Feminismus
Ich habe mich beim Lesen mit I Love Dick schwer getan. Anfangs nannte ich es für mich Shades of Grey für Intellektuelle, weil Chris sich vollständig und unnötigerweise abhängig von Dick macht. Wenn meine snobistische Ader noch mehr mit mir durchging, nannte ich es Shades of Grey für Pseudo-Intellektuelle. Manchmal bin auch ich ein Dick.
Die Geschichte hat mich geärgert. Noch mehr, weil sie wahr ist. Ich wollte zwanzig Jahre in der Zeit zurückreisen, Chris Kraus schütteln oder gleich ohrfeigen und sie fragen, wozu sie all diese Bücher gelesen hat, wozu sie selbst welche schreibt, wenn sie sich am Ende doch nur verhält wie eine geist- und atemlose 13jährige auf dem Schulhof, wenn der offizielle Mädchenschwarm vorbeiläuft. Ich wurde beim Lesen wütend auf sie, die alles kann, alles könnte, aber ihr Leben darauf ausrichtet, (einen) Dick zu lieben.
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I Love Dick von Chris KrausErschienen 2017 bei Matthes & Setz | Anzeige |
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I Love Dick von Chris KrausErschienen 2017 bei Matthes & Setz |
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Diese Wut resultiert aus einer besonderen Nähe, die ich beim Lesen empfand. Chris und ich. Wir sind erwachsene, erfolgreiche, selbstständige Frauen, sie 1997 und ich heute, und es gibt keinerlei Grund, sein Glück von irgendjemand anderem abhängig zu machen als von sich selbst. Da sind wir quasi genau gleich. Wir tragen ja sogar denselben Nachnamen. Okay, sie trägt den Namen ihres Vaters und ich den meines Ehemanns. Aber wir sind doch unabhängig. Eigenständig. Genau so viel wert wie ein Mann, auch ohne einen. Oder?
I Love Dick: Wissen und Fühlen
Ich bin rational davon überzeugt, dass natürlich jeder Mensch auf diesem Planeten gleich viel wert ist. In dem speziellen Kontext, in dem I Love Dick spielt, bedeutet das, dass ich weiß, dass eine Frau so viel wert ist wie ein Mann. Aber ändert dieses Wissen etwas?
Jein. Etwas zu wissen, ist nicht egal. Aber es reicht auch nicht aus, um bestehende Strukturen zu ändern. Es ist nur als Fakt da, nicht als Tat. Ich bin sicher, Chris Kraus wusste schon 1997 rein intellektuell sehr genau über die Gleichheit von Mann und Frau Bescheid (genau wie ich), während sie Dick nachstellte und ich an der Uni darauf erpicht war, als einzige Frau im Kurs zu derivaten Finanzinstrumenten nicht zu sehr aufzufallen – und daher einfach ein halbes Jahr lang meinen Mund hielt, obwohl ich (und das ist jetzt nicht meine snobistische Ader, sondern das Selbstbewusstsein, zu dem ich mich hin und wieder zwinge) mehr wusste, als alle anderen im Raum.
Emanzipation als emotionales Problem
Warum tut man so etwas? Warum fühlen sich viele Frauen auch 2017 noch dazu aufgefordert, Männern nicht zu sehr zu zeigen, was sie wirklich können? Meine Antwort: Um nicht auf die Anerkennung verzichten zu müssen, die sie sich am meisten wünschen. Die zu wünschen ihnen anerzogen wurde, und zwar auch von ihren weiblichen Vorbildern. Die Anerkennung durch einen Mann. Und so wissen wir zwar, dass wir alle gleich viel wert sind – das haben wir schließlich in der Schule gelernt und auf Spiegel gelesen -, aber wir fühlen es noch nicht. Wenn wir nachts im Bett liegen und träumen, wenn wir in der Bahn sitzen und jemand uns unter den Rock stiert, wenn wir Bücher wie die von Chris Kraus lesen und uns ärgern, wissen wir alles und fühlen das Gegenteil.
Diese Diskrepanz zwischen Wissen und Fühlen, die im Buch dieser extrem gebildeten und hochintellektuellen Frau so besonders zutage tritt, ist das, was I Love Dick mir seit nun fast drei Monaten nahezu jeden Tag aufs Neue vorsetzt. Und was ich erst heute so genau verstanden habe, dass ich es in Worte fassen konnte. Frauen meiner Generation und der Generationen vor mir haben ihren Wert rational dank ihrer Eltern und ihrer Lehrer gelernt – aber sie schaffen es noch nicht, ihn zu fühlen. Weil Musikvideos, Fernsehwerbung, der Arbeitsalltag oder einfach nur die Zustände zuhause dann doch nicht gleichberechtigt sind. Und das für alle so okay zu sein scheint. Frauen inklusive.
Eine wirkliche Änderung in der Gesellschaft erfordert einen Dreisprung: Wissen, Fühlen, Tun. Genauso trifft es auch auf die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu. Wir wissen. Aber wer fühlt? Wer tut?
Ich hoffe, dass diejenigen meiner Geschwister, die deutlich jünger sind als ich, und meine Nichten und Neffen, die das Verlieben, das Austarieren in einer Beziehung und das Selbstverständnis in einer Hochschulvorlesung noch vor sich haben, nicht nur wissen, dass es keinen Grund gibt, Frauen und Männer unterschiedlich zu behandeln, sondern dass sie es fühlen. Dass sie schaffen, was meine Generation, die von Chris Kraus und die davor nicht geschafft haben – aber vielleicht zumindest vorbereitet. Und dass sie mit ihrem Fühlen wiederum ein Tun vorbereiten, das die Welt braucht. Weil es für alle Menschen besser ist, wenn jede*r auf diesem Planeten problemlos sein volles Potenzial ausschöpfen kann.
Wir brauchen Bücher wie I Love Dick
I love Dick war nicht fertig mit mir, weil das Thema nicht fertig war mit mir. Und natürlich umgekehrt. Und das wird nie so sein, denn das Thema – ist ein Mensch mehr wert als der andere, ist ein Mann mehr wert als eine Frau – wird in absehbarer Zeit nicht gelöst sein. Leider.
Beim Lesen habe ich dieses Buch teilweise gehasst, weil es mir an etlichen Stellen einen Spiegel vorgehalten hat, in den ich nicht schauen wollte. Der mir gezeigt hat, dass ich Teil der Lösung sein will, aber nicht aufhören kann, Teil des Problems zu sein. Weil Chris Kraus in Bezug auf ihre eigenen emotionalen Bedürfnisse keinerlei Schamgrenze zu kennen scheint. Und auch damit jedem Leser und jeder Leserin zeigt, wie sehr es die Emotionen sind, die bestimmen, was wir tun, unabhängig davon, wie schlau wir sind. Und dass wir uns schämen sollten, uns unserer Emotionen zu schämen.
Seit ich bei den letzten Sätzen des Buches, die schonungslos und kalt zeigen, welche Respektlosigkeit Arschloch Dick die ganze Zeit Chris über empfunden hat, in Tränen ausgebrochen bin, liebe ich dieses Buch. Aber nicht erst seit diesem Zeitpunkt. Denn manchmal ist die Tatsache, dass man sich gedanklich und emotional an etwas/jemandem abarbeitet, ja das eindeutigste Zeichen für Liebe.
Hype nach zwanzig Jahren
Dass I Love Dick zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen in Deutschland einen solchen Hype ausgelöst hat, ist verwunderlich, weil sich seit zwanzig Jahren offensichtlich nicht viel geändert hat. Und notwendig – aus demselben Grund. Vor allem ist es gut. Und wichtig. Wir sind noch nicht so weit, wie wir uns vielleicht einreden, seit wir eine Kanzlerin haben, weil noch nicht alle von uns fühlen, was sie längst wissen.
Aber wir können unser Wissen und unsere Emotionen, die sich nicht miteinander vereinen lassen, weitergeben, so dass andere darauf aufbauen können. Unsere jüngeren Geschwister, unsere Kinder, unsere Nichten und Neffen. Chris Kraus hat das getan. Und für jede*n, die/der an diesem Thema interessiert ist, lohnt es sich, das zu lesen. Und weiterzugeben. Auch wenn man sich selbst dabei vielleicht unbehaglich fühlt.
I Love Dick ist nicht das Buch, das mir die beste Zeit dieses Jahr verschafft hat. Aber es ist das Buch, das mir mit Abstand am meisten bedeutet hat. Bei dem meine innere Diskrepanz zwischen Wissen und Fühlen am stärksten zutage trat und mich aufgefordert hat, darüber zu sprechen. Das mich am meisten beschäftigt, auch jetzt noch. Und dem ich von Herzen die meisten Leser*innen wünsche, weil wir alle das brauchen.