Das Unglück kommt manchmal in unscheinbarer Gestalt: In einer nicht näher benannten Großstadt fährt ein Autofahrer nicht weiter, als die Fußgängerampel, an der er wartet, für ihn auf grün springt. Was täglich wohl hundertfach passiert, hat in „Die Stadt der Blinden“ eine tragische Ursache. Der Fahrer ist erblindet, urplötzlich, ohne Vorgeschichte und ohne Grund. Nur noch eine große weiße Fläche sieht er. Dem freundlichen Helfer, der ihn nach Hause bringt und sich um das Auto des Blinden „kümmert“, geht es bald genau so. Der Augenarzt weiß keinen Rat; eine Blindheit wie diese hat er noch nie untersucht. Schlimmer noch: Er erblindet selbst. Offensichtlich ist die „weiße Blindheit“ hochgradig ansteckend und greift wie eine Epidemie um sich.
Massenepidemie und hilfloser Staat
Immer mehr Menschen werden von der neuen Art Blindheit erfasst, und die Regierung, die sich einem unlösbaren und unerklärbaren Problem gegenüber sieht, schafft sich die Sorgen erstmal vom Hals, indem sie kurzerhand eine Quarantäne verhängt. Die Blinden werden zu Hause eingesammelt und in einer ehemaligen Irrenanstalt mehr oder weniger sich selbst überlassen. Damit keiner der Kranken auf die Idee kommt, zu fliehen und damit die Gesunden in Gefahr zu bringen, wird die Anstalt von Soldaten bewacht, die den Befehl haben, jeden zu erschießen, der versucht wegzulaufen. Auch der Augenarzt wird abgeholt, und seine Frau, die seltsamerweise noch sehen kann, täuscht ebenfalls Blindheit vor, um an der Seite ihres Mannes bleiben zu können.
In der Anstalt läuft zunächst alles relativ geregelt ab. Zwar sind die Blinden auf sich allein gestellt und mit der Situation überfordert, aber die Frau des Arztes hilft, so gut sie kann, ohne ihr Geheimnis preiszugeben. Doch die Quarantäne hat nicht die gewünschte Wirkung; die Ausbreitung der Blindheit setzt sich fort und nimmt sogar zu. Da niemand einen anderen Rat weiß, werden mehr und mehr Menschen in die Anstalt gebracht, so dass diese bald aus allen Nähten platzt. Hinzu kommt, dass die Nahrungsmittellieferungen, auf die die Blinden angewiesen sind, nicht regelmäßig eintreffen. Rivalitäten entstehen, und diejenigen, die skrupelloser sind, gewinnen bald die Überhand.
Erschreckendes Bild der Gesellschaft
„Die Stadt der Blinden“ zeichnet ein ernüchterndes – und erschreckendes – Bild unserer Gesellschaft und des Menschen an sich, und das gleich in zweifacher Hinsicht. Die Reaktion der „Gesunden“ auf die gerade Erblindeten besteht ausschließlich in Ausgrenzung, und das von der ersten Sekunde, vom ersten Blinden an. Schon in der eingangs geschilderten Szene, in der der erste Mann erblindet, wenden sich die Umstehenden ab, halten Abstand, wollen nichts mit dem Leid dieses Menschen zu tun haben. Der einzige, der hilft, tut dies nicht aus Nächstenliebe, sondern weil er sich davon einen materiellen Vorteil verspricht.
Mit Entsetzen liest man außerdem, wie die Sub-Gesellschaft, die sich in der Quarantäne bildet, funktioniert. Sehr schnell herrscht das Recht des Stärkeren, von Solidarität oder Hilfsbereitschaft keine Spur. Jeglicher Rest von Zivilisation verfliegt, als das Essen knapp wird. Die Konsequenz, in der diese Situation von José Saramago geschildert wird, sorgt auch dafür, dass „Die Stadt der Blinden“ nichts für zarte Gemüter ist. An einigen Stellen musste ich beim Lesen schlucken, war schockiert und zutiefst betroffen. Realistisch und bestürzend zugleich bringt einen das Buch immer wieder dazu, zu denken „Ja, so würde es wahrscheinlich passieren“.
José Saramagos Schreibstil ist zudem etwas gewöhnungsbedürftig. Wie in vielen seiner anderen Romane auch verzichtet er in „Die Stadt der Blinden“ auf Anführungszeichen, so dass einem manchmal nicht gleich klar ist, dass ein Dialog begonnen hat. Die Perspektive wechselt, und von Absätzen hält der Literatur-Nobelpreisträger insgesamt auch nicht so viel. Dennoch liest sich „Die Stadt der Blinden“ sehr leicht, was natürlich nicht zuletzt am Inhalt liegt, der einen so sehr in seinen Bann zieht, dass man nicht aufhören kann zu lesen.
Trotz des teilweise schockierenden Inhalts ein sehr empfehlenswertes Buch, das einen über das Zusammenleben von Menschen und den Umgang mit Krankheit nachdenken lässt.
Infos zum Buch
Die Stadt der Blinden
(Ensaio sobre a Cegueira)
José Saramago
400 Seiten
Erstausgabe 1995
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