Identität und Sprache – das sind die beiden großen Themen in „Stadt aus Glas“ von Paul Auster, dem ersten Roman der New-York-Trilogie. Schon zu Beginn weiß die Hauptfigur nicht so recht, wer sie eigentlich ist. Daniel Quinn hat seit dem Tod seiner Frau und seines Sohns seine ambitionierteren Schriftsteller-Pläne aufgegeben und schreibt mittlerweile nur noch unter dem Pseudonym William Wilson Kriminalromane, die aus der Sicht des Protagonisten Max Work erzählt sind. Und so fällt es Quinn auch nicht schwer, sich als Privatdetektiv auszugeben, als man ihn wiederholt dafür hält. Um die Verwirrung komplett zu machen, heißt der Privatdetektiv, mit dem man den Schriftsteller verwechselt, Paul Auster.
Mit einer falschen Telefonnummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war.
Suche nach der vollkommenen Sprache
Und so trifft Quinn auf Peter Stillmann, dessen Frau Virginia die traurige Geschichte ihres Mannes erzählt: Stillmanns Vater, Peter Stillmann senior, war Theologie-Professor in New York, bevor er sich kurz nach dem Tod seiner Frau dazu entschloss, sein Leben der Erziehung seines zweijährigen Sohnes zu widmen. Allerdings sah er die Erziehung als eine Art sprachliches Experiment an. Indem er Peter junior jeglichen Kontakt zur Außenwelt und jegliche persönliche Ansprache vorenthielt, wollte er die „Sprache Gottes“ entdecken, die sich seiner Meinung nach automatisch entwickeln sollte, wenn ein Kind keinen störenden Einflüssen ausgesetzt ist. Natürlich scheiterte das Experiment, frustriert überließ Stillmann senior seine Arbeiten dem Feuer, aus dem Vater und Sohn gerettet werden konnten. Um beide kümmerten sich anschließend staatliche Institutionen.
Nun, nach fast dreißig Jahren, wird Stillmann senior aus der Heilanstalt entlassen. Da er zwei Jahre zuvor einen Drohbrief an seinen Sohn geschrieben hat, fürchtet dieser nun um sein Leben – und beauftragt Daniel Quinn, den er für den Privatdetektiv Paul Auster hält, ihn zu schützen.
Verwirrspiel in New York
Quinn nimmt den Auftrag an, auch wenn ihm klar ist, dass er nicht einmal Geld damit verdienen wird – man zahlt ihn mit Schecks, die auf den Namen Paul Auster ausgestellt sind und die er nicht einlösen kann. Dennoch reizt es ihn, selbst einmal als Privatdetektiv tätig zu sein, und am nächsten Tag passt er Vater Stillmann an der Central Station ab, um ihn tagelang zu verfolgen, ohne herauszufinden, was der Mann plant und ob sein Sohn wirklich in Gefahr ist.
„Stadt aus Glas“ ist die erste Roman-Veröffentlichung von Paul Auster. Vordergründig eine Art Kriminalgeschichte, spielt Auster mit den Identitäten seiner Figuren – und auch seiner eigenen. Ein Schriftsteller namens Paul Auster kommt ebenfalls im Roman vor, und der Erzähler von „Stadt aus Glas“ gibt sich erst gegen Ende des Romans zu erkennen.
Wie in Paul Austers zweitem Roman „Mond über Manhattan“ spielen auch in „Stadt aus Glas“ der Zufall, das Löslösen von gesellschaftlichen Konventionen und die Suche nach sich selbst eine zentrale Rolle. Und trotz der verwirrend scheinenden Identitäts- und Namensgleichheiten ist „Stadt aus Glas“ eine faszinierende Lektüre über die Macht der Sprache und die Schwierigkeit, selbst zu wissen, wer man ist.
Und dann, das wichtigste von allem: mich erinnern, wer ich bin. Mich erinnern, wer ich sein soll. Ich glaube nicht, daß das ein Spiel ist.
Infos zum Buch
Stadt aus Glas (City of Glass)
Paul Auster
176 Seiten
Erstausgabe 1985
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