„In Russia […] there are only crime stories.“
Eine Nebenfigur in A. D. Millers „Die eiskalte Jahreszeit der Liebe“ fasst so die Essenz des Buches zusammen: Im immer noch frisch kapitalistischen Russland der ersten Jahre des neuen Jahrtausends läuft letzten Endes jede Geschichte auf ein Verbrechen hinaus.
Hauptfigur und Erzähler Nicholas Platt muss sich das sagen lassen, weil er noch an andere Geschichten glaubt, an Politik und an Liebe. Mit Ende 30 arbeitet er als Anwalt in Moskau, und die erste Sache, die man ihm beibringt, ist, dass es zwar unzählige Gesetze in Russland gibt, man diese aber nicht wirklich zu beachten braucht. Vor allem nicht als Anwalt. Seine Arbeit besteht darin, Banken dazu zu bringen, Gelder für verschiedene Geschäfte, vor allem Ölgeschäfte, bereitzustellen. Unter sich nennen er und seine Kollegen das „putting lipstick on a pig“. Dass hier nicht immer alles genau und legal abläuft, zeigt sich schon zu Beginn der Erzählung.
Personifizierte Versuchung
Doch auch in seinem Privatleben kommt Nick immer wieder mit Verbrechen in Berührung. Ein Freund seines Nachbarn ist spurlos verschwunden und wird den ganzen Winter über vermisst. Nick, der seinem Nachbarn versprochen hatte, bei der Suche zu helfen, verliert schnell das Interesse an der Sache – Polizisten für die Nachforschungen nach einem Mann zu bestechen, den er nicht mal persönlich kannte, geht ihm dann doch zu weit. Außerdem ist er mit seinen Gedanken ohnehin ganz woanders. Denn gerade ist die personifizierte Versuchung in Gestalt von Masha in sein Leben getreten. Platt ist realistisch genug, zu wissen, dass möglicherweise auch finanzielle Interessen eine Rolle bei Masha spielen. Dennoch hofft er auf so etwas wie eine Beziehung. Und den langen, nicht enden wollenden Moskauer Winter über schafft Masha es, Nicks Hoffnungen genügend aufrecht zu erhalten, um ihn dazu zu bringen, ihr mit allem zu helfen, wofür sie Hilfe braucht. So wird Nick nicht nur Zeuge diverser Verbrechen, sondern er wird selbst in eins verwickelt – und nimmt das halbwegs gleichgültig hin. Moskau und vor allem die Beziehung zu Masha machen ihn zu einem anderen Menschen.
Unzuverlässiger Erzähler
Die Haupterzählung in „Die eiskalte Jahreszeit der Liebe“ ist eingebettet in eine Rahmenhandlung: Der Anwalt möchte heiraten, hat aber vorher das Bedürfnis, seiner Verlobten zu gestehen, was in seiner Moskauer Zeit geschehen ist. Und so wendet sich das Buch immer wieder an die Angesprochene und somit an den Leser. Der Erzähler scheint dabei nicht immer zuverlässig. An vielen Stellen merkt man, wie er zu rechtfertigen versucht, woran er beteiligt war. Er erklärt vor allem auch sich selbst, warum er nicht früher wissen konnte, was damals passierte, lässt aber gleichzeitig durchblicken, dass er es sehr wohl hätte wissen können.
Der deutsche Titel „Die eiskalte Jahreszeit der Liebe“ lässt auf einen Liebesroman schließen, und tatsächlich spielt die Liebesbeziehung zu Masha eine bedeutende Rolle. Doch in Wahrheit handelt es sich hier schon eher um einen Krimi, was auch der Originaltitel „Snowdrops“ (dt. Schneeglöckchen und – wie im Roman erklärt – der Begriff, mit dem man in Moskau Leichen bezeichnet, die den Winter über im Schnee versteckt waren und bei Tauwetter entdeckt werden) vermuten lässt.
„Die eiskalte Jahreszeit der Liebe“ ist dabei ein auf Grund seines Stils und der Darstellung Russlands auch für Nicht-Krimifans empfehlenswertes Buch, das auf der Shortlist des Man Booker Prize 2011 stand und bisher nicht auf Deutsch erschienen ist. Im Vordergrund steht die Zuverlässigkeit der eigenen Erinnerung und das Erstaunen des Erzählers darüber, wie er Dinge einfach ignorieren oder sogar akzeptieren konnte, die er vorher nicht für möglich gehalten hätte. In jedem Fall lesenswert, auch weil von Anfang an immer wieder Andeutungen gemacht werden, die das Ende teils schon vorwegnehmen, die Lektüre aber umso spannender werden lassen.
Infos zum Buch
Die eiskalte Jahreszeit der Liebe (Snowdrops)
A.D. Miller
288 Seiten
Erstausgabe 2011 (dt. 2012)
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