Lange, bevor ich wusste, was eine Robinsonade ist, übte diese Art Buch eine besondere Faszination auf mich aus: Ein einsamer Held, der sich in Isolation von aller Zivilisation befindet, muss sich auf sich selbst und seine Fähigkeiten berufen, um das eigene Überleben zu sichern. Diese Art Geschichten führt einem deutlich vor Augen, was man alles für selbstverständlich hält, wie stark der Mensch zu seinem eigenen Vorteil in die Umwelt eingegriffen und sie verändert hat und wie sehr man auf andere Menschen angewiesen ist – selbst, wenn man glaubt, dass man ganz wunderbar alleine zurecht kommt. „Die Wand“ ist von Regisseur Julian Roman Pölsler mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt worden. Zur Filmkritik von „Die Wand“ >>
Abgeschnitten von der Außenwelt
Eine Robinsonade, die mich besonders angesprochen hat, ist „Die Wand“ von Marlen Haushofer, vielleicht auch, weil „Robinson“ hier eine Frau ist. Nicht auf einer Insel, sondern in den österreichischen Bergen bleibt die namenlose Hauptfigur alleine zurück. In der Jagdhütte von Verwandten wollte sie ein paar ruhige Tage verbingen, doch gleich am ersten Morgen wacht sie allein auf der Hütte auf. Ihre Cousine und deren Mann sind von einem Ausflug hinunter ins Dorf nicht zurückgekehrt. Besorgt macht die Erzählerin sich auf die Suche nach den beiden, begleitet vom Jagdhund Luchs, den sie plötzlich, nachdem er vorgelaufen war, mit blutiger Schnauze und vor Angst winselnd auffindet. Der Grund für seine Verletzung und seine Angst ist etwas, das die Frau selbst nicht fassen kann. Eine unsichtbare und unüberwindbare Grenze hat sie plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten: die Wand. Woher sie kommt und was sie bedeutet, bleibt offen. Es wird nur klar, dass die Wand nicht nur eine Trennung vom Rest der Welt verursacht, sondern wohl auch der Grund ist, dass die Frau überhaupt noch lebt. Die Menschen und Tiere, die sie durch die Wand hindurch sehen kann, sind offensichtlich tot.
Dass Luchs ihr geblieben ist, ist ein großes Glück für die Frau, denn so ist sie zumindest nicht völlig einsam. Das Gebiet, das ihr durch die Wand bleibt, ist groß, und ihr Überleben ist auf Grund der Vorräte in der Jagdhütte zunächst gesichert. Weitere Tiere, vor allem eine Katze und eine Kuh, nimmt sie ebenfalls in ihre Obhut, und die damit verbundene Arbeit nimmt sie so sehr in Anspruch, dass im Grunde nie ein wirklicher Versuch unternommen wird, die Wand zu überwinden. Wozu auch? Was die Frau hinter der Wand gesehen hat, lässt schließlich auf nichts Gutes hoffen.
Leben mit der Natur
Insgesamt zwei Jahre umfasst der Bericht, der endet, als der Hauptfigur das Papier zur Neige geht.
Neben den Mühen, die das Überleben in Einsamkeit und Abgeschiedenheit einfordert, ist es vor allem die beschriebene Sorge für die Tiere, die einen zum Nachdenken bringt. Während die ihr gebliebenen Tiere der Erzählerin Trost spenden und eine Aufgabe geben, macht ihr der Gedanke an andere Menschen zusehends Angst.
Und natürlich kann man die Wand auch als perfekte Metapher für Grenzen, die man nicht sieht, aber fraglos akzeptiert, verstehen.
Mich persönlich hat das Buch nicht nur während des Lesens gefesselt, sondern ist mir in den Jahren, seit ich es das erste Mal gelesen habe, immer wieder ins Bewusstsein gekommen und in Erinnerung gerufen worden. Nicht „Mensch gegen Natur“, sondern „Mensch mit Natur“ ist das Thema, und auch, wenn man nicht durch eine unsichtbare Wand gezwungen ist, sich damit auseinanderzusetzen, findet man viele Gedanken, die einen nachhaltig beschäftigen können.
Infos zum Buch
Die Wand
Marlen Haushofer
285 Seiten
Erstausgabe 1963
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