Wenn man quasi schon sein ganzes Leben auf der Flucht ist, wundert man sich vielleicht über gar nichts mehr. Wenn man schon überall gelebt und alles gesehen hat, dann fällt einem vielleicht auf, dass der Hut, den der Mann gegenüber im Zug trägt, nur Tarnung sein kann, damit er nicht erkannt wird, denn schließlich ist der Mann niemand anderes als der Tod. Wenn man nirgends zu Hause sein kann, weil man sein Erbe beschützen und gleichzeitig (er)tragen muss, dann fallen die Gemeinsamkeiten, die man findet, viel mehr ins Gewicht als die Unterschiede. Oder vielleicht bildet man sich das nur ein, beschützt einen die eigene Fantasie davor, zu sehen, was man nicht sehen möchte.
Der Erzähler, dem man in „Robinsons blaues Haus“ rund um den Erdball folgt, erfährt schon als Kind von seinem Vater, wo er sich befindet, auch wenn es so aussieht, als ob er in einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt lebt. In Wahrheit ist er, so sagt der Vater, wie jeder Mensch auf einer Insel, mitten in der Stadt oder im Dorf, mitten in Menschenmassen – immer allein und auf sich gestellt. Und tatsächlich ist es so, dass sich die frühen Erfahrungen der Flucht vor schikanierenden Mitschülern sein Leben lang fortsetzen.
Moderner Robinson im Ozean der Gesellschaft
Dass der Erzähler von einem Ort zum anderen treibt, in Lagerhäusern und verlassenen Bahnhofsmeistereien lebt, ist nicht zuletzt auf den Vater zurückzuführen. Dieser hat seinen Job bei der Bank ein wenig kreativ ausgebaut und eine Art Geldwäsche-Imperium aufgebaut. Dabei hat er sich nicht einfach mit den falschen, sondern mit den ganz falschen Leuten eingelassen. Die einen Code von ihm wollen, den er nicht ihnen, sondern seinem Sohn gibt. Der dadurch zu einem modernen Robinson wird, der zu niemandem eine Bindung eingehen kann und dem das ganze atemberaubend viele Geld, das sein Vater ihm hinterlassen hat, nur den Vorteil bringt, dass er ohne Gepäck reisen und es sich in seinen stets abgelegenen, heruntergekommenen und einsamen kleinen Rückzugsorten ein wenig heimelig machen kann. Dabei treibt er nicht nur von Stadt zu Stadt, sondern auch zwischen Traum und Wirklichkeit. Ob als Kind in einer selbst erstellten Taucherglocke oder als Erwachsener auf der Flucht im London Dungeon – nie kann man sich sicher sein, ob das, was da erzählt wird, nicht doch nur der Fantasie des Erzählers entspringt.
Doch eine Bindung bleibt, denn wo ein Robinson ist, fehlt auch Freitag nicht. Diesen hat er dort gefunden, wo man heute eben findet, wen oder was man sucht: im Internet. Und obwohl er nicht viel über diesen Freitag weiß, ist dieser einzige Freund derjenige, der als erster und einziger die ganze Geschichte von „Robinsons blauem Haus“ erfährt.
Ein Floß von einem Roman
„Robinsauns blaues Haus“ ist eine Geschichte, die so ist wie das Leben der Hauptfigur: undurchsichtig, verwoben, aufregend, fantasievoll – und komponiert wie eine Sinfonie. Dabei fühlt man sich, während man „Robinsons blaues Haus“ liest, oft selbst wie auf einem Floß, das auf den Wellen hin- und hergetrieben wird: Man kommt hierhin und dorthin, ist überrascht, was einen noch erwartet, versteht nicht alles auf Anhieb, und findet vor allem auf jeder Seite aufs Neue etwas, über das man nur staunen kann. Sätze, die sich wie plötzlich auftauchende Gedanken gegenseitig widersprechen, mittendrin oder kurz vor Schluss eine so unerwartete Wendung nehmen, dass man fast nicht hinterherkommt oder die einen einlullen wie ein Wiegenlied, nur um einen um so überraschender wieder aus der behaglichen Stimmung herauszureißen. Wo die Realität endet und die Fantasie beginnt, fragt man sich irgendwann gar nicht mehr – man ist selbst viel zu gefangen in dieser wunderbar erzählten Geschichte.
„Robinsons blaues Haus“ ist das dritte Buch, das ich von der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012 gelesen habe (und das fünfte von der Longlist), und es hat mich, wie die anderen auch, sehr positiv überrascht. Da hört es mit den Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Die nominierten Romane, die ich bisher gelesen habe, sind sprachlich, thematisch und genre-seitig völlig unterschiedlich, so dass ich keinen wirklichen Favoriten mehr habe. Wie „Indigo“ und „Sand“ auch hätte „Robinsons blaues Haus“ den Preis in jedem Fall verdient – schon allein wegen unzähliger wunderschön wahrer Sätze wie „Das Leben ist ein Säbelzahntiger.“
Infos zum Buch
Robinsons blaues Haus
Ernst Augustin
319 Seiten
Erstausgabe 2012
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