Home Rezensionen Wir (Jewgenij Samjatin)

Wir (Jewgenij Samjatin)

von Yvonne
Cover "Wir"

Cover „Wir“

Freiheit ohne Individualität gibt es nicht. Aber das behauptet auch niemand im Einheitsstaat, dem Schauplatz des dystopischen Romans „Wir“ von Jewgenij Samjatin. Stattdessen lehnt man beides als längst überholte Stufen der Evolution ab, denn man hat die Formel zum Glück gefunden: absolute Gleichheit – der Menschen, der Gedanken, der Gefühle und der einzelnen Tage. So hat der Wohltäter, das regelmäßig in offener Wahl einstimmig wiedergewählte Staatsoberhaupt, eine „goldene Stundentafel“ erlassen, die minutiös das Leben des Einzelnen und somit aller regelt. Alle Menschen stehen zur gleichen Uhrzeit auf und ziehen ihre Uniformen an, gehen um die gleiche Zeit arbeiten (immer in Viererreihe), essen gleichzeitig die synthetisch hergestellte Nahrung und beenden den Tag gemeinsam mit dem Schlafengehen. Privatsphäre gibt es nicht, denn man wohnt in gläsernen Häusern, damit die „Beschützer“ es leichter haben, ihrem Job nachzugehen: die Menschen vor sich selbst und möglichen Abweichungen vom Normverhalten zu schützen. Was noch bleibt sind zwei „persönliche Stunden“ je Tag, die man wahlweise auf einem Spaziergang verbringen kann – also in Viererreihe zur Staatshymne durch die Straßen marschierend -, am Schreibtisch oder, wenn der Plan es vorsieht, mit Sex mit einer auf einen eingetragenen Person, die einem auch das extra hierzu ausgestellte rosa Billet abzeichnet. Dabei darf man aber immerhin die Vorhänge zuziehen – so viel Vertrauen muss sein.

Durch ständige Abgrenzung zur Vergangenheit und den Ahnen – der Roman „Wir“ spielt mehrere hundert Jahre in der Zukunft – wird den Bewohnern des Einheitsstaates immer wieder vor Augen geführt, wie gut sie es haben. Es gibt keine Kriege, keinen Neid, keine Ungleichbehandlung. Sämtliche negativen Gefühle sind durch Gleichschaltung und durchgängige Beschäftigung ausgemerzt. Das „Wir“ des Buchtitels gibt die Einstellung der einzelnen Bürger wieder: Nicht Individualismus ist gefragt, sondern der Beitrag des Einzelnen zum Wohl des gesamten Organismus. Und tanzt doch mal jemand aus der Reihe, ist das kein Grund zur Sorge. Der Wohltäter sorgt höchstpersönlich mit Hilfe einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Maschine dafür, dass störende Elemente aus der Gesellschaft aussortiert werden. Denn wer braucht schon Einzigartigkeit, wenn man mit Hilfe von entsprechender Technik drei Sinfonien in einer Stunde komponieren kann und Gedichte wahlweise das Einmaleins oder die Exekution der Woche zum Thema haben.

 

 


„Wir“ statt Individualismus

Die Ent-Individualisierung des Menschen im Einheitsstaat ist schon so weit fortgeschritten, dass es nicht einmal mehr Namen gibt, sondern jeder Mensch eine Buchstaben-Nummern-Kombination zur Unterscheidung trägt – auch im wörtlichen Sinne, also aufgenäht auf seiner Kleidung. Konsequent spricht man auch gar nicht mehr von Menschen, sondern von Nummern. Eine dieser Nummern, D-503, ist der Erzähler im Roman „Wir“, der in Tagebuchform seine Erlebnisse schildert. Als Ingenieur ist D-503 mit der Konstruktion des Raumschiffs „Integral“ betraut, das eine Botschaft des Einheitsstaats ins All tragen soll. Der „Integral“ ist das größte und wichtigste Prestige-Projekt des Einheitsstaats, und alle Nummern sind aufgerufen, einen Beitrag zu dieser Botschaft zu leisten. D-503 entschließt sich, etwas aus seinem Leben zu erzählen. Dieses ist wie das aller Einheitsstaatler reglementiert; er hat seine Arbeit, seinen Schreibtisch, seine persönlichen Stunden und seine gelegentlichen Treffen mit O-90, die auf ihn eingetragen ist und darunter leidet, nicht der Mutternorm zu entsprechen, das heißt, keine Kinder haben zu dürfen. Insgesamt ist O aber zufrieden mit der Situation; der zweite auf sie eingetragene Mann ist R-13, Ds bester (und einziger) Freund. Und D-503 hat die Normen des Wohltäters so sehr verinnerlicht, dass er sich beständig über sein großes Glück, nicht in Freiheit leben zu müssen, freut.

Doch eine Begegnung bringt sein Weltbild ins Wanken. Bei einem der täglichen Spaziergänge geht I-330 neben ihm in der Reihe, und allein ihr Lachen irritiert schon, das darauffolgende Gespräch, in dem sie sogar Ds Hand nimmt, noch mehr. I will D wiedersehen, und offensichtlich kennt sie Nummern mit Einfluss, denn sie schafft es, weitere Treffen mit D-503 zu organisieren. Dieser gesteht sich zögerlich ein, dass er sich wohl verliebt hat. Undenkbar und natürlich verboten. Doch die heimlichen Treffen kann er einfach nicht lassen, und er probiert sogar einen Schluck Alkohol, was natürlich alles andere als gemeinnützig ist. D hält sich selbst für krank, da er die Gefühle, die er plötzlich hat, nicht anders erklären kann. Die Information, dass I-330 einer Untergrundorganisation angehört, die den Einheitsstaat stürzen will und Ds Unterstützung brauchen könnte, ist dann auch gar nicht mehr so schockierend. Aus Liebe zu I und aus seinen neu entstandenen Zweifeln heraus willigt er sogar ein, den Bau des „Integral“ zu sabotieren.

 

Genre-prägender Dystopie-Klassiker

„Wir“ entstand im frühen 20. Jahrhundert und zählt zu den ersten dystopischen Romanen überhaupt. Die Schilderung des totalitären Staats, der Entmenschlichung, der Kontrolle und Transparenz wurden genre-prägend. So gilt der Roman „Wir“ als Vorläufer zu den Dystopie-Klassikern „Schöne neue Welt“ und „1984“. Zwei Jahre vor Erscheinen des letzteren schrieb George Orwell eine Rezension zu „Wir“ für den Tribune, da der Roman ihn sehr beeindruckt und offensichtlich auch beeinflusst hatte.

In Russland wurde „Wir“ lange Zeit nicht veröffentlicht und unterlag der Zensur; zunächst erschienen Übersetzungen in den USA und in Frankreich. Auf Russisch erschien der Roman erstmals 1988, mehr als 75 Jahre nach seine Fertigstellung.

1981 wurde „Wir“ fürs deutsche Fernsehen verfilmt.

Für Freunde von Dystopien / Anti-Utopien geradezu ein Muss, da man hier Ansätze findet, die in etlichen späteren Romanen wieder aufgegriffen wurden und die das Genre nachhaltig beeinflussten.

Infos zum Buch

Wir
(Мы)
Jewgenij Samjatin
224 Seiten
Erstausgabe 1920


[manual_related_posts]

Google

Das könnte dir auch gefallen:

Schreibe einen Kommentar

Diese Website nutzt Cookies. Ich gehe davon aus, dass du damit einverstanden bist, wenn du die Seite nutzt. Du kannst dich aber aktiv davon abmelden. Akzeptieren Mehr Informationen