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Die Stunden (Michael Cunningham)

von Yvonne
Cover "Die Stunden"

Cover „Die Stunden“

Drei Frauen, drei Leben, drei Zeiten, ein Tag im Juni: auf diese Formel lässt sich Michael Cunninghams „Die Stunden“, Romanvorlage für den Film „The Hours“, bringen. Verbunden werden diese drei Erzählungen durch eine vierte Frau: Die Romanfigur Mrs. Dalloway aus dem gleichnamigen Roman von Virgina Woolf.

Einer der drei Handlungsstränge handelt dann auch gerade von der Entstehung dieser Figur und schildert einen Tag im Juni 1923 im Leben der Schriftstellerin Virgina Woolf. Diese ist gerade dabei, den ersten Satz ihres neuesten Romans zu schreiben, der am Ende „Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen.“ lauten wird. Doch nicht allein dieser Satz beschäftigt Virginia Woolf. Nachdem sie seit frühester Jugend an Depressionen leidet, hat ihr Arzt ihr Erholung und Rückzug verschrieben, und sie musste mit ihrem Mann Leonard von London aufs Land ziehen. Sie vermisst das Leben in der Stadt, fühlt sich eingeengt, von den Dienstboten nicht ernstgenommen und möchte nichts lieber als zurück nach London – mit allen Konsequenzen. Doch diesen einen Tag im Juni verbringt sie vor allem damit, sich Clarissa Dalloways Leben vorzustellen: wie Virginia Woolf selbst fühlt sich ihre Figur gefangen in ihrer Welt, in der sie Partys organisiert statt wirklich sie selbst zu sein. Sie hört von einem Kriegsheimkehrer, der sich durch einen Sprung aus einem Fenster das Leben genommen hat und denkt auch selbst über den Freitod nach – den 1941 auch Virgina Woolf wählte.


Die Stunden: Drei gespielte Identitäten

26 Jahre nachdem er verfasst wurde, liest Laura Brown diesen ersten Satz, während sie noch in ihrem Bett in Los Angeles liegt und das Aufstehen hinauszögert. Es ist der Geburtstag ihres Manns Dan, der sie abgöttisch liebt und sie gerade jetzt, da sie zum zweiten Mal schwanger ist, besonders verwöhnt und ihr alles zugesteht, was sie möchte. Laura kann sich kaum von dem Buch losreißen, doch ihr Pflichtgefühl und ihr schlechtes Gewissen bringen sie dazu, nach unten zu gehen, um sich um ihren Mann und ihren Sohn Richard zu kümmern. Nachdem Dan zur Arbeit gefahren ist, beschließt sie, einen Geburtstagskuchen für ihn zu backen, ein Unterfangen, das sich als schwieriger herausstellt als sie dachte. Der Kuchen missglückt, Laura verzweifelt fast an ihrer Unfähigkeit, die Rolle, die ihr zugedacht ist, einzunehmen, und denkt – wie Mrs Dalloway – darüber nach, aus ihrem Leben zu entkommen, indem sie es beendet, entschließt sich jedoch, ihrem Leben noch eine zweite Chance zu geben.

Ende der 1990er Jahre organisiert eine andere Clarissa ebenfalls eine Party: Clarissa Vaughan beginnt ihren Tag, indem sie ihrer Lebensgefährtin Sally mitteilt, dass auch sie die Blumen für diesen Anlass selbst besorgen wird. Ihr Jugendfreund Richard, der sie seit Jahrzehnten nur noch „Mrs. Dalloway“ nennt, hat einen Literaturpreis gewonnen, für dessen Verleihung Clarissa alles vorbereiten wird. Richard ist an AIDS erkrankt, sein Zustand ist schlecht, er isst kaum und leidet unter Wahnvorstellungen. Immer wieder fragt Clarissa sich an diesem Tag, wie ihrer beider Leben verlaufen wäre, wenn sie die kurze, glückliche Phase der Verliebtheit, die sie in ihrer Jugend durchlebt haben, ausgedehnt und in eine Beziehung hätten münden lassen.

Die Stunden Michael Cunningham

Roman über verpasste und zweite Chancen

Die Frauen in Michael Cunninghams Roman „Die Stunden“ stehen alle an diesem besonderen Tag im Juni an einem Wendepunkt in ihrem Leben, an dem sie über verpasste Gelegenheiten, nicht gelebte Leben und zweite Chancen. Die Erzählstruktur, die Michael Cunningham verwendet, ist der Stream-of-Consciousness, der wohl am bekanntesten im Ulysses eingesetzt wurde: Auf der Handlungsebene passiert nicht wirklich viel im Roman; stattdessen nimmt man an den ungefilterten Gedanken der Protagonistinnen teil. Möglich ist dies auch vor allem dadurch, dass jede der drei das Gefühl hat, eine bestimmte Rolle spielen zu müssen, die von ihr erwartet wird, und sich beim Ausüben der Rolle selbst beobachtet und – zum Teil fast erstaunt – beschreibt. Da kann das Backen eines Kuchens zum Symbol für ein unpassendes Lebenskonzept werden und die Krümel in der Glasur nicht nur eine Katastrophe, sondern das Zeichen für Versagen auf der ganzen Linie. Dennoch haben alle drei Hauptfiguren den dringenden Wunsch, (noch) nicht aufzugeben und zu versuchen, glückliche Momente, vielleicht sogar Jahre zu erleben.

 

Hommage an „Mrs Dalloway“

Davon abgesehen hat Michael Cunningham mit „Die Stunden“ Virginia Woolf und ihrem wohl bekanntesten Roman ein Denkmal gesetzt – denn nicht nur, dass auch „Mrs. Dalloway“ an einem einzigen Tag im Juni spielt, an dem die Hauptfigur sich abmüht, eine Party zu organisieren, etliche weitere Parallelen zum Roman zu finden sind und der vorherrschende Stil in diesem Klassiker ebenfalls der Stream-of-Consciousness ist, wollte Virgina Woolf diese Geschichte um eine Frau, die an ihrer Rolle und sich selbst verzweifelt, ursprünglich „The Hours“ nennen.

„Die Stunden“ gibt einen absolut authentischen Einblick in die komplexen Gedankengänge, die den einfachsten Handlungen vorangehen, diesen eine Bedeutung geben und einen am Ende glücklich oder unglücklich zurücklassen. Gleichzeitig bietet „Die Stunden“ trotz des immer wieder vorherrschenden Themas Tod / Selbstmord einen hoffnungsvollen Ausblick: Auch wenn Virginia Woolf am Ende ihre psychische Krankheit nicht mehr ertragen konnte und sich das Leben nahm, entscheiden sich Laura Brown und Clarissa Vaughan für das Leben, dafür, dass es im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten liegt, zumindest zu versuchen, glücklich zu sein. Und obwohl nicht sehr viel in diesem Roman „passiert“, liest sich „Die Stunden“ zu 100% spannend und vor allem nachvollziehbar.

Eine absolute Empfehlung also, und ich freue mich sehr, dass ich durch unseren Buchclub dazu gekommen bin, „Die Stunden“ zu lesen.

Infos zum Buch

Die Stunden
(The Hours)
Michael Cunningham
224 Seiten
Erstausgabe 2001
(Original: 1998)


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