Aus den Lautsprechern plärrt den ganzen Tag Propaganda, Vergangenheit und Gegenwart werden stets in einen Triumph umdefiniert, in jedem Zimmer hängt ein Bild des gottgleichen „Geliebten Führers“, und ein falsches oder falsch interpretiertes Wort kann einen ohne Umweg ins Arbeitslager bringen: Man könnte glauben, „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ sei eine Dystopie, doch die Welt, in der es spielt, gibt es tatsächlich; ein Land, das geographisch und ideologisch so weit entfernt von uns ist, dass man so gut wie nichts darüber weiß: Nordkorea.
Schon der Name Pak Jun Do der Hauptfigur zeichnet sein Leben vor. Denn „Jun Do“ hört sich nicht nur an wie die US-amerikanische Bezeichnung „John Doe“ für eine Person, deren Identität ungeklärt ist, an, sondern es ist auch der Name von einem von 114 nordkoreanischen Märtyrern, nach denen ausschließlich Waisen benannt werden.
Auch wenn Jun Do sich als Kind (und auch später als Erwachsener) selbst überzeugen kann, dass er eigentlich der Sohn des Waisenheimaufsehers ist – warum sonst würde dieser Jun Do schlechter behandeln als alle anderen, wenn nicht, um seinen Sohn zu schützen? -, weiß natürlich jeder, woher er kommt. Und für Waisen steht es noch schlechter als für den Rest der unterdrückten Bevölkerung im totalitären Staat: Bereits als Kinder werden sie in die Fabriken ausgeliehen, später für die gefährlichsten Aufgaben eingesetzt, und es hält sich der Aberglaube, dass Waisen Unglück bringen, so dass auch niemand etwas mit ihnen zu tun haben will.
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do: Ein fremdbestimmtes Leben in einem totalitären Staat
Doch das Waisenheim, das eher einer Sammel- und Aufzuchtstelle für kostenlose Arbeitskraft gleicht, ist nur der Ausgangspunkt für Jun Dos abenteuerliche – und traurige – Reise. Von dort geht es gleich in den Militärdienst. Um die Tunnelanlagen unter der Demilitarisierten Zone zu bewachen, werden Soldaten ausgebildet, die in völliger Dunkelheit kämpfen können. Dass die Zeit seiner Ausbildung sein Leben lang Auswirkungen auf Jun Do hat, erfährt man erst später. Für die nordkoreanische Regierung jedenfalls hat er äußerst nützliche Kenntnisse erworben. Im Dunkeln kämpfen zu können, hilft nämlich auch dabei, wenn man nachts in fremden Ländern Menschen entführt, um so an ausländische Arbeitskräfte zu gelangen. Genau dafür wird Jun Do abgestellt: Mit einem Fischerboot schippert er gemeinsam mit zwei anderen „Freiwilligen“ vor Japans Küste umher, bis sich irgendjemand am Strand zeigt, der noch nicht ahnt, dass er den Rest seines Lebens in Nordkorea verbringen wird. Doch auch dieser Job ist nicht seine endgültige Bestimmung: eine Stelle als Funker (und Spion) auf einem anderen Fischerboot, ein fingierter Haiangriff und ein im Desaster endender Besuch beim texanischen Senator bringen Jun Do an den Ort, an dem die Fremdbestimmung am größten ist: ins Gefängnisbergwerk. Und gerade hier, an diesem hoffnungslosesten aller Orte, beginnt er, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und für etwas, das er wirklich will, zu kämpfen. Was ihm dabei hilft: seine lebenslange Übung darin, Geschichten zu erzählen, Gründe für etwas zu erfinden, das man nicht begründen kann. Denn Normalität in einem Überwachungsstaat bedeutet, dass man Dinge, die nicht sein dürfen, umdeuten muss, um eine zur Staatsideologie passende Geschichte daraus zu entwerfen.
Genre-übergreifende Geschichte über ein abgeschottetes Land
„Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ ist eine faszinierende Erzählung über eine Welt, über die man so gut wie nichts weiß, mit der man sich nach der Lektüre des Romans aber auf jeden Fall intensiv auseinandersetzen möchte. Autor Adam Johnson reiste für die Recherchen zu „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ sogar selbst nach Nordkorea, durfte dort jedoch nur mit Menschen sprechen, die eigens für diesen Zweck ausgebildet waren. Eine authentischere Quelle bildeten für ihn Berichte nordkoreanischer Überläufer, die Einblicke in den totalitären Staat geben.
Mit Jun Do erschuf Adam Johnson eine Hauptfigur, in die man sich auch dann noch hineinversetzen kann, wenn sie selbst Verbrechen begeht. Der Überwachungsstaat, in dem der Waise / Soldat / Spion / Staatsfeind lebt, gibt genau dieses Verhalten vor. Von diesem Einblick, den Adam Johnson hier in ein real existierendes 1984 gibt abgesehen, ist „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ eine absolut spannende, lesenswerte, berührende, traurige, witzige und fesselnde Lektüre, die zwischen Entwicklungsroman, Abenteuererzählung und Liebesgeschichte pendelt und einen die knapp 700 Seiten geradezu verschlingen lässt.