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Die Abweichung von der Norm

von Yvonne

Auch nach vielen Jahren der Emanzipation, vielen Verbesserungen in der Gleichberechtigung und einer Kanzlerin, die sich bereits seit zehn Jahren an der Spitze der Regierung hält, bleibt immer noch ein gravierender Unterschied zwischen den Geschlechtern: Das Leben eines Mannes wird von Beruf, Umfeld, sozialem Status und Intellekt bestimmt, während der gravierendste Einflussfaktor auf das Leben einer Frau ihr Frau-Sein ist. Seit Simone de Beauvoir hat sich nicht viel geändert: das Männliche ist die Norm, das Weibliche die Abweichung davon, das Andere, das Aber.

Die beiden Protagonistinnen in Gertraud Klemms Roman Aberland, Franziska und Elisabeth, Tochter und Mutter, stammen zwar aus unterschiedlichen Generationen, sind aber gleichermaßen hineingepresst in ein Rollen-Schema, das sie sich nicht ausgesucht haben. Franziska ist Mitte 30, Mutter eines Dreijährigen, der seine schlimmste Phase gerade erst hinter sich hat, und würde gerne zurück in den Beruf, während ihr Mann Thomas – und dessen Mutter – sich ein zweites Baby wünschen. Die sogar auf ihren Körper bezogene Fremdbestimmung treibt Franziska sogar zu einer Affäre mit einem deutlich älteren Mann, in der sie jedoch auch in die typisch weibliche Rolle der Schwächeren und stets Gebenden verfällt. Während Thomas befördert wird und somit für Unterstützung im Privaten noch weniger greifbar ist, beschäftigt sich Franziska mit Kindergeburtstagen und ihrer Schwiegerfamilie, bei der sie eher geduldet als aufgenommen ist.

Aberland: Vom Frau-Sein bestimmt

Elisabeths Mutter führt zwar ein gänzlich anderes Leben, doch auch dieses ist von ihrem Geschlecht vorbestimmt. Ihr Mann steht kurz vor der Pension, was ihn aber nicht davon abhält, regelmäßig wechselnde Affären neben seiner Ehe zu haben. Elisabeth hat sich damit abgefunden und hat ihr – berufsloses – Leben stattdessen dem Kampf um die Erhaltung ihrer Schönheit gewidmet. Sie bräunt sich im Schwimmbad, geht zur Kosmetikerin und hadert mit den Pfunden, die sie ihrer Ansicht nach zu viel mit sich herumschleppt. Zwar sind ihre beiden Kinder natürlich längst erwachsen, aber die Pflege ihrer Schwiegermutter bindet sie ans Haus. Ein eigenes Leben, eine eigene Erfüllung und Verwirklichung gibt es für Elisabeth ebenso wenig wie für ihre Tochter Franziska.

Aberland zeigt in lebensnahen Episoden, wie sehr sich eine gesellschaftlich geprägte Ungleichheit noch in den alltäglichsten Situationen manifestiert und Frauen nach wie vor zu den Verlierern eines überholten Rollenverständnisses macht. Hat man bei den Kapiteln, die aus Elisabeths Sicht erzählt sind, noch das Gefühl, dass ihre zu ehelicher Langeweile verdammte Existenz einer altmodischen Generation angehört, zeigen Franziskas Episoden deutlich, dass das Kapitel Selbstverwirklichung für eine Frau mit der Geburt des ersten Kinds endet. Die Diskrepanz zwischen Thomas, der Karriere macht, und Franziska, die Geburtstagseinladungen bastelt, beleuchtet, wie tragisch das ist. Nach Ausbildung, Studium und Partner-Suche verbringen Frauen um die 30 die für die Karriere wichtigsten Jahre zu Hause, und nach zwei Kindern und drei bis vier verpassten Jahren Berufserfahrung ist die finanzielle Kluft zwischen Ehemann und Ehefrau so groß, dass sich eine andere berufliche Aufteilung als „Mann: 100%, Frau: ein bisschen“ einfach nicht mehr rechnet.

Die Fremdbestimmung der beiden Hauptfiguren wird im Buch auch durch Schriftstücke – Einladungen, Ankündigungen, E-Mails – symbolisiert, die jedem Kapitel vorangestellt sind. Irgendjemand schickt etwas oder kündigt ein Ereignis an und die Frauen stehen bereit – und sorgen auch dafür, dass Kind und Mann ebenfalls zur Stelle sind.

Gertraud Klemm nahm mit dem ersten Kapitel aus Aberland beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb teil. Die überwiegend männliche Jury war wenig begeistert von Klemms Alltagsnähe, dafür gewann der Text den Publikumspreis – zu Recht, wie ich finde. Denn Klemm legt den Finger genau in eine Wunde, die als längst geheilt gilt. Und das macht Klemms Roman nicht nur zu einem guten, sondern auch zu einem wichtigen Buch: Verändern kann man nämlich nur, was man erkennt und was man – im besten Fall – benennt. Beides schafft sie in Aberland hervorragend.

Aberland ist für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert.

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