Eri und Mari sind Schwestern, doch beim Namen, der sich nur in einer Silbe (und im Japanischen damit in einem Zeichen) unterscheidet, hören ihre Ähnlichkeiten schon auf. Mari, die Jüngere, ist nachdenklich und verbringt ihren Abend lieber allein mit einem Buch in einem Schnellrestaurant, als sich zu Hause von ihren Eltern anzuhören, um wie vieles hübscher doch ihre ältere Schwester ist. Immerhin hat das Desinteresse der Eltern bei Mari zu einer sehr frühen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit geführt – bereits als Jugendliche hat sie sich gegen den Willen der Eltern eine chinesische Schule ausgesucht und sich dort erstmals wirklich akzeptiert gefühlt. Was geblieben ist, ist eine starke Affinität zur chinesischen Sprache, die es ihr sehr leicht gemacht hat, ihr Studienfach zu wählen.
Eri lebt ein völlig anderes Leben als die ernste Mari, studiert zwar auch, aber interessiert sich für teure Kleidung, hat schon als Schülerin als Model gearbeitet und schafft es nicht wirklich, sie selbst zu sein, weil man ihr beigebracht hat, dass sie an allererster Stelle immer darauf zu achten hat, wie sie auf andere wirkt. Doch während aus Maris Perspektive Eri die ganz klar glücklichere ist – immer wurde sie von den Eltern gelobt, alles fiel ihr leichter -, ist auch diese nicht glücklich mit ihrem doch sehr oberflächlichen Leben. Sie entzieht sich diesem, indem sie schläft. Monatelang, ohne aufzuwachen.
Ein Streifzug durch die Nacht
Quasi in Echtzeit begleitet man die beiden Schwestern (und einige Figuren, die Mari trifft) durch eine ganz gewöhnliche Nacht in Tokyo. Mari trifft im Café auf einen ehemaligen Schulkameraden von Eri, den Posaunisten Takahashi. Sie kommen ins Gespräch, erst zögerlich und ein wenig distanziert, da Mari sich erinnert, dass Takahashi wie alle Männer, die sie getroffen hat, damals von Eris Schönheit so begeistert war, dass er Mari kaum wahrnahm. Takahashi geht zur Band-Probe, Mari wird zu einem Stundenhotel gerufen, um dort für eine von ihrem Freier ausgeraubte chinesische Prostituierte zu übersetzen. Wirklich helfen kann sie dem Mädchen nicht, aber Mari fühlt eine starke Verbundenheit, wie sie sie bisher nicht kannte.
Da sie kein Ziel hat, lässt Mari sich treiben, landet in einem anderen Café und trifft dort wieder auf Takahashi, und anders, als beim ersten Treffen, lassen sich die beiden dieses Mal aufeinander ein und öffnen sich dem anderen zumindest ein wenig.
Dazwischen bringen einen die kurzen Kapitel von „Afterdark“ auch immer wieder zu Eri zurück, die man beobachtet, während sie schläft. Und damit ist der Leser nicht allein: In Eris Zimmer steht ein Fernseher, der einen seltsamen Mann mit Maske zeigt. Dieser Mann sitzt auf einem Stuhl, nahezu unbeweglich, und beobachtet Eri. Aus dem Fernseher heraus. Und überhaupt verschwimmen in den Episoden, die von Eri handeln, Traum und Wirklichkeit, der Raum verändert sich, Gegenstände aus anderen Teilen des Romans tauchen auf, und selbst Eri schläft plötzlich nicht mehr in ihrem Zimmer, sondern bei dem seltsamen Mann, den man deutlicher denn je auf dem Bildschirm sehen kann.
Afterdark Roman wie ein Episodenfilm
Haruki Murakami ist ein großer Jazz-Fan, und in vielen seiner Bücher spielt Musik eine große Rolle. In „Afterdark“ ist das besonders deutlich, denn schon der Titel ist eine Anspielung auf „Five Spot After Dark“. Etliche weitere popkulturelle Anspielungen auf Bücher, Filme und Musik durchziehen den kurzen Roman, und der Aufbau, der jedem Artikel eine Zeitangabe voranstellt, erinnert an Echtzeit-Filme oder Serien wie „24“. Die Kapitelstruktur spiegelt einen Episodenfilm wider; man springt von einer Geschichte in die nächste und folgt scheinbar zusammenhanglos den verschiedenen Protagonisten, und der Vergleich zu Jim Jarmuschs „Night on Earth“ drängt sich geradezu auf. Der filmische Charakter des Buchs wird besonders deutlich in den Kapiteln, die von Eri handeln: Hier werden Kamerafahrten und Bildausschnitte beschrieben, und der Leser fühlt sich wirklich, als würde er die junge Frau auf einem Monitor beim Schlafen beobachten.
„Afterdark“ enthält viele Elemente, die man immer wieder in den Büchern von Haruki Murakami findet – junge, entfremdete Protagonisten, die Vermischung von Realität und Fantasie, eine Kultur, die eine Mischung aus Japan und westlichen Elementen kennzeichnet -, ist aber deutlich kürzer als viele andere seiner Romane, und damit ein guter Einstieg, um zu sehen, ob dieser Autor einem liegt.
Infos zum Buch
Afterdark
(afutā dāku)
Haruki Murakami
240 Seiten
Erstausgabe 2005
Du magst „Afterdark“? Dann gefällt dir vielleicht auch…
|
[footer]