Alles beginnt mit einem Wolf: 80 km von Berlin, in der Nähe der polnischen Grenze, wird er zum ersten Mal gesehen, und die, die ihm begegnen, wissen im Angesicht des plötzlichen Auftauchens der rohen Natur nichts besseres, als ein Foto zu machen. Der erste, der den Wolf fotografiert – in einem kilometerlangen Stau nach einem Tanklaster-Unfall, ist der junge polnische Bauarbeiter Tomasz, der auf der Rückreise zu seiner Freundin nach Berlin ist. Tomasz bleibt nicht der letzte, durch dessen Leben und Gedanken der Wolf streift – ein Teenager-Pärchen, das aus dem Dorf davon läuft, in dem es keine Perspektive sieht, die Eltern des Pärchens und Kiosk-Besitzer sind gleichermaßen fasziniert von diesem unerwarteten Besuch und verwurzelt in ihren eigenen Problem, die der Alltag in Berlin und Umgebung für sie mitbringt.
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts kreuzen sich die Wege von Wolf und Mensch
In kurzen, selten mehr als zwei oder drei Seiten umfassenden Kapiteln, entwirft Roland Schimmelpfennig ein eindrückliches Bild der Bewohner der Gegend um Berlin: perspektivlos, sprachlos und ohne wirkliche Bindung zueinander trinken sie lieber Alkohol oder klammern sich an ein Gewehr, als ihre Sorgen einmal offen auszusprechen. Wenn der Wolf auch nur hin und wieder auftauchender Statist ist, so ist er dennoch ein Symbol der Natur, die sich die Stadt zurückholt – zumindest für einen kurzen Zeitraum. Die Stadt, die immerhin die größte und weitläufigste Deutschlands ist, schrumpft dann auch auf einen überschaubaren Raum zusammen – die Wege aller Figuren des Romans kreuzen sich fast zwangsläufig, und die Welt wirkt mit jedem Zufall kleiner und bewältigbarer.
Schimmelpfennigs Stil ist nüchtern beschreibend, und man merkt dem Text an, dass sein Verfasser normalerweise Regie-Anweisungen schreibt. Roland Schimmelpfennig ist einer der meist gespielten Dramatiker des deutschen Gegenwartstheaters. An einem klaren, eiskalten Januarmorgen ist sein erster Roman. Schimmelpfennig führt außerdem selbst Regie am Theater und hat zahlreiche Hörspiele verfasst.
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2016 nominiert.