Russische Klassiker zu lesen, ist oft eine echte Herausforderung. Die Figuren sind unzählig, tragen, um die Verwirrung noch zu vergrößern, oft gleich mehrere Namen, die Handlungsstränge sind vielfältig und nehmen selbstverständlich mindestens 1.000 Seiten ein. Aber Herausforderungen sind dazu da, angenommen zu werden, und viele russische Klassiker zeichnen sich durch einen Detailreichtum aus, der einem das Gelesene noch Jahre später im Gedächtnis hält. Dass man solche Romane nicht gemütlich an ein, zwei Abenden „konsumieren“ kann, versteht sich von selbst, aber der Aufwand lohnt. Und „Anna Karenina“ zu lesen, lohnt in jedem Fall.
Verwobene Geschichten in drei Adelsfamilien
Anna Karenina, die titelgebende Hauptfigur, lernt man zunächst als Löserin der Probleme anderer kennen: Ihr Bruder, Fürst Oblonskij, hat seine Frau Dolly mit der Gouvernante der gemeinsamen Kinder betrogen. Dolly ist drauf und dran, ihren Mann zu verlassen, und Anna eilt zu Hilfe, um zu retten, was noch zu retten ist. Mit dem Zug reist sie von St. Petersburg, wo sie schweren Herzens ihren Sohn bei ihrem Ehemann zurückgelassen hat, nach Moskau. Während der Fahrt unterhält sich Anna mit der Gräfin Wronskaja, die am Bahnsteig in Moskau von ihrem Sohn Wronskij abgeholt wird. Wronskij ist Offizier und bekennender Junggeselle. Gerne flirtet er mit verschiedenen Frauen, doch sich für nur eine zu entscheiden, kam ihm bisher nicht in den Sinn. Aber die schicksalhafte erste Begegnung zwischen Anna Karenina und ihm ändert alles. Überschattet wird sie durch einen tragischen Unfall: Ein Arbeiter fällt auf die Gleise und wird von einem Zug erfasst. Anna interpretiert das als schlechtes Zeichen, während Wronskijs Gedanken ganz woanders sind – er ist vom ersten Moment an Anna Karenina verfallen.
Gesellschaftlich unmögliche Liebe
Doch Anna kümmert sich zunächst um ihre Schwägerin Dolly. Da sie sich sicher ist, dass Oblonskij seine Frau trotz der Affäre noch liebt, überzeugt sie Dolly, bei ihm zu bleiben. Unterdessen trifft ein alter Freund Oblonskijs ein: Der Gutsbesitzer Ljewin hat sich in Dollys jüngere Schwester Kitty verliebt und möchte ihr einen Heiratsantrag machen. Doch Kitty nimmt die Schmeicheleien, die Wronskij ihr in der Vergangenheit gegenüber gemacht hat, zu ernst. Während sie für Wronskij lediglich Koketterie waren, erwartet Kitty, dass der Offizier ihr bald einen Heiratsantrag machen wird. Und so schickt sie Ljewin mit einem Korb und gebrochenem Herzen nach Hause.
Aber auch Kittys Liebe bleibt unerwidert: Auf einem Ball, den sie gemeinsam mit Anna Karenina besucht, wartet sie vergeblich darauf, dass Wronskij ihr den Hof macht. Stattdessen erkennt sie, dass der Offizier Anna liebt. Anna selbst merkt ebenfalls, dass sie sich zu Wronskij hingezogen fühlt und flieht vor ihren Gefühlen zurück nach St. Petersburg. Wronskij lässt nicht locker, fährt mit dem selben Zug nach St. Petersburg und gesteht Anna seine Liebe. Anna, die nach ihrer Rückkehr erkennt, dass sie ihren Mann nicht mehr liebt, lässt sich schließlich auf eine Affäre ein, die nicht nur ihr eigenes Leben völlig aus den Fugen geraten lässt.
Liebes- und Gesellschaftsroman
„Anna Karenina“ ist weit mehr als ein Liebesroman. Tolstoi entwirft darin ein detailliertes Bild der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit ihren moralischen Vorstellungen und Schwierigkeiten. Dabei sind es gerade die vielen Details, die im Gedächtnis bleiben. An Oblonskij, der nach eigener Analyse in seiner Arbeit vor allem deswegen so gut ist, weil sie ihm völlig gleichgültig ist, musste ich noch Jahre nach dem ersten Lesen oft denken, und Kitty und Ljewin, die einander so zaghaft-kindlich näher kommen, sind für mich auch heute noch der Inbegriff des Zueinandergehörens.
Dass die klassische Vorlage nun bereits zum elften Mal verfilmt wurde, wundert nicht, denn die Themen sind zeitlos, die Figuren realistisch und die Geschichte mitreißend. Eine so weitverzweigte, bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitete Geschichte, die gleich drei Familien umfasst, lässt sich nicht auf 200 Seiten unterbringen. Und ist somit die perfekte Lektüre für lange Winterabende.
Infos zum Buch
Anna Karenina
Leo Tolstoi
1.248 Seiten
Erstausgabe 1877
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