2011 veröffentlichte Angelika Klüssendorf mit Das Mädchen eine Geschichte über eine mehr als unglückliche Kindheit in der DDR. Vom trinkenden und straffällig gewordenen Vater sitzengelassen, von der sadistischen Mutter gequält, landete die namenlose Protagonistin schließlich im Kinderheim. Der Roman wurde ein großer Erfolg, stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Im Februar ist nun die Fortsetzung dieses Romans erschienen, das Mädchen ist mittlerweile 18 Jahre alt, hat seine Ausbildung abgebrochen und sich selbst einen Namen gegeben: April.
Da April nun volljährig ist, lässt sie das Heim hinter sich. Von der Jugendfürsorge wird ihr ein Zimmer zur Untermiete und ein Job zugewiesen, doch beides setzt nur den Weg des Unerwünschtseins fort. Fräulein Jungnickel, die sauberkeits- und wellensittichverliebte Vermieterin, traut der jungen Frau nicht über den Weg, bevormundet und überwacht sie. Doch April braucht nicht lange, bis sie sich hier den ersten Regeln widersetzt, genau wie auf der Arbeit. Statt wie von ihr erwartet staatlichen Institutionen begehrte Kabel zukommen zu lassen, unterstützt sie kleinere Bauernhöfe mit der knappen Ware. Zum ersten Mal erfährt sie hier, dass eigentständiges Denken und Handeln als staatsfeindlich aufgefasst werden könnte, als eine Vorgesetzte sie zur Seite nimmt und warnt.
Auf der Suche nach einer eigenen Stimme
Auf der Suche nach Freundschaften, die sie dann doch nicht aufrechterhält, fühlt sich April immer wieder zurückgewiesen, begeht schließlich einen Selbstmordversuch, der ihr das Leben mit der Vermieterin noch schwerer macht. Immerhin erhält sie so nach der Zeit in der Psychiatrie einen neuen Arbeitsplatz im Museum zugewiesen, an dem sie faktisch nichts macht, dafür aber Anschluss an Künstler- und Intellektuellenkreise bekommt. Dass sie sich im Vergleich zu ihren neuen Bekannten wertlos fühlt, ändert sich erst, als sie Hans trifft, den sie in jeder Hinsicht bewundert und der sich schließlich nie mit ihr abgeben würde, wenn sie nichts wert wäre. Die Beziehung zu Hans ist die erste von Dauer, und relativ schnell wird sie schwanger, was endlich den Auszug aus dem Zimmer bei Fräulein Jungnickel ermöglicht.
Stets findet April Gefallen daran, die Regeln zu brechen, zu provozieren um des Provozierens willen. Mit einer Kollegin aus dem Museum entwirft sie eine Untergrundzeitschrift, in der sie Künstler aus ihrer Bekanntschaft zu Wort kommen lässt und die die beiden heimlich vertreiben. Immer wieder entgeht sie nur knapp einer Verhaftung, ist sich aber irgendwann sicher, dass sie von der Stasi beobachtet wird. Beunruhigt ist sie deswegen nicht; Hans und ihr ist längst klar geworden, dass sie nicht in der DDR bleiben wollen, und nach etlichen Versuchen, die Genehmigung für einen Ausreiseantrag zu erhalten, geschieht das Unwahrscheinliche: Sie dürfen die DDR in Richtung Westen verlassen.
April ist ein in sehr sachlichen, fast kalten Sätzen erzählter Roman über eine junge Frau, die sich ihre eigenen Regeln gestaltet und gegen den Widerstand aller – selbst ihrer engsten Freunde – ihren eigenen Weg findet. Zu den Schwierigkeiten, die sie auf Grund ihrer nicht politisch, sondern menschlich gemeinten Provokationen erhält, kommt die Tatsache, dass sie eine Frau ist und nicht einmal Hans, der sie liebt, ihr wirklich viel zutraut. Dass sie depressiv wird, wundert nicht; dass sie die Kraft findet, eigene Versuche als Künstlerin zu unternehmen, immer zu sich selbst steht und ihren Weg findet, obwohl sie alles andere als das Klischee-Bild einer „starken Frau“ ist, ist eine umso größere Leistung.
Der im Präsens erzählte Roman erlaubt eine Nähe zur Hauptfigur April, die diese ihrer Umgebung selbst nicht zugesteht, nicht einmal ihrem Sohn, der in ihr gleichzeitig Liebe und Erschrecken hervorruft. Überhaupt wirkt April fast immer einsam, selbst in Gesellschaft ihrer Familie oder ihrer Freunde; einzig bei einem Urlaub gibt es kurze Momente des Glücks und der Zugehörigkeit. Und so ist April vor allem eine Geschichte über das Finden des eigenen Platzes – bei sich selbst und bei anderen.
April ist nominiert für den Deutschen Buchpreis 2014.