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Identität ist schon der falsche Begriff

von Yvonne

Francesco del Cossa war ein italienischer Maler des 15. Jahrhunderts, der sich ganz zeitgemäß vor allem religiösen Bildern widmete. Ali Smith nimmt sich diese historische Figur als einen von zwei Ausgangspunkten ihres aktuellen Romans Beides sein und sie erzählt die Geschichte der Identitätsfindung Francescos in einer nicht für den Maler gemachten Welt. Denn bei Ali Smith ist Francesco in Wahrheit eine Frau, die sich von dem Zeitpunkt, als ihre Mutter stirbt, als Junge ausgibt, um Förderung für ihr zeichnerisches Talent zu erhalten. Denn selbstverständlich  gibt es für ein Mädchen seiner Zeit keine Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu entwickeln und einzusetzen. Und dieses Fähigkeiten sind so beeindruckend, dass sie ire Zeit überdauern und dass noch mehr als 500 Jahre später del Cossa Bewunderer im Museum findet.

Einer dieser Bewunderer, dem Francesco heute – erkennbar an Smartphones und Tablet – wie ein Geist durchs Museum, an seinen eigenen Bildern vorbei und hinaus in ein fremdes Leben folgt, ist George. Francesco hält George zunächst für einen Jungen, doch es stellt sich heraus, dass George trotz männlichem Namen und männlicher Frisur genau wie Francesco weiblich ist. Und es gibt noch mehr Parallelen zwischen den beiden: Georges Mutter ist kürzlich gestorben, und sie bemüht sich, mit Schule, Freunden und vor allem ihrem Vater zurecht zu kommen. Dabei sucht auch sie nach ihrer eigenen Identität, ihrem Platz in der Gesellschaft, und ein Schul-Projekt, das sie über Francesco del Cossa anfertigt, hilft ihr dabei sogar ein Stück weit.

Beides sein: Suche nach Identität durch bewusste Dichotomie

Beides sein ist in vielerlei Hinsicht ein ganz einzigartiges Buch, denn es nimmt – in absolut positivem Sinne – keinerlei Rücksicht auf sein Publikum, bricht Lesegewohnheiten, spielt mit Erwartungen, Erzählweise und der – wunderbaren – Sprache und vermeidet es wie seine Protagonistinnen, sich unnötig festzulegen. Diese Dichotomie enthält bereits der Titel im kleinen Wort „both“, das darauf hinweist, dass zwei Gegensätze vereint werden – alt und jung, tot und lebendig, Mann und Frau.

Es existieren zwei verschiedene Fassungen von Beides sein, die auf einer weiteren Ebene die Dualität des Romans und damit seine innerste Botschaft symbolisieren, denn je nachdem, welche Variante man erhält, beginnt der Roman mit Georges oder mit Francescos Geschichte an. Meine Fassung fing mit Francescos Erzählung an, was sicher der schwierigere Einstieg ist, denn gerade der poetische Stil, die verknappten Beschreibungen und gleichzeitig fantasievoll-überschwenglichen, das Leben regelrecht ergreifenden Sätze, erschweren es zu Beginn, einen Zugang zu Beides sein zu finden. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen fühlte ich mich mehr und mehr in die Geschichte hineingezogen und setzte den Roman gedanklich relativ schnell auf die immer länger werdende Liste meiner Lieblingsbücher. Doch auch Georges etwas gewöhnlicher erzählte Geschichte weiß einen zu fesseln, und beide laufen am Ende darauf hinaus, dass man sich selbst nicht unbedingt in der Abgrenzung zu etwas anderem finden muss, sondern Dualität auch durchaus zulassen kann, ohne daran zu verzweifeln.

Beides sein ist nicht nur ein faszinierendes Buch über Identität, die sich nicht festlegt, sondern stand darüber hinaus auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2014. Am 21.3.2016 erscheint der Roman auf Deutsch.

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