Carambole ist ein Spiel, das entfernt an Billiard erinnert: Man versucht, flache Spielsteine mit den Fingern und mit der Hilfe eines zweiten Steins in die Ecken des Spielbretts zu schießen. Dass Jens Steiner gerade diesen Titel für seinen zweiten Roman wählte, liegt sicher nicht nur daran, dass es in „Carambole“ eine Gruppe Männer gibt, die dieses Spiel gerne spielt. Vielmehr erinnert das Dorf, der Schauplatz des Romans, ebenfalls an ein Carambole-Brett. Die Figuren der zwölf Geschichten, in denen das Dorfleben rund um Sommerferien-Beginn, das Verschwinden eines Tennis-Stars und eine Explosion in einer Fabrik geschildert wird, nehmen Einfluss aufeinander und auf die Geschichte der anderen Dorfbewohner – mal ganz direkt, doch meist eher „über Bande“.
Dieses Dorf, in dem „Carambole“ spielt, ist so typisch, so durchschnittlich, dass selbst seine Bewohner unentwegt damit rechnen, dass einfach gar nichts passiert. Das spüren schon die Jüngsten: Fred, Manu und Igor, die gemeinsam zur Schule gehen, sehen mit wachsender Unruhe den Sommerferien entgegen. Zwei Wochen sind es noch, und bislang haben die Jungs noch keinen Plan, wie sie ihre langen Tage dann füllen sollen. Der Tipp des Landstreichers Schorch, doch die alten Werkzeuge des Sonderlings Freysinger zu stehlen und zu Geld zu machen, ist nicht wirklich was für sie. Stattdessen träumt Fred davon, seine Schulkameradin Renate zu entführen, einfach, um in ihrer Nähe zu sein, doch selbst den Kindern ist schon aufgefallen, dass sie sowieso nie in die Tat umsetzen, was sie sich vornehmen.
Renates Eltern würde es auch gerade noch fehlen, dass ihre Tochter von ein paar Jugendlichen entführt würde, haben sie doch selbst mehr als genug Probleme. Renates Mutter weiß nicht mehr, was in Mann und Tochter vor sich geht, versucht, eine längst nicht mehr existente Familienidylle aufrecht zu erhalten und kämpft dabei doch gegen Windmühlen. Derweil macht Renate selbst die ersten schmerzhaften Erfahrungen, welche Konsequenzen falsche Entscheidungen, Leichtsinn und unverdientes Vertrauen mit sich bringen können.
Porträts der Dorfbewohner
„Carambole“ erzählt in zwölf Episoden aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven, die Ereignisse in dem Dorf, während die Dorfbewohner sich in einer Stimmung des Abwartens befinden. Dabei passiert einiges, und damit ist nicht nur die Explosion gemeint, die eine Fabrik im Dorf eines Nachmittags erschüttert, und die sich wie ein fester Punkt am Horizont im Hintergrund vieler der zwölf Geschichten findet. Der berühmte Tennisspieler, der dem Dorf für eine Weile zumindest ein wenig Glanz und Ruhm brachte, ist verschwunden, und die Sorge ist groß, dass er dem Dorf für alle Zeit den Rücken gekehrt haben könnte. Lange verstrittene Brüder sehen sich seit Jahrzehnten das erste Mal in die Augen, eine Familie zerbricht und die geheime Freundschaft dreier sehr ungleicher Männer wird auf eine harte Probe gestellt.
Die Tatsache, dass immer wieder andere Figuren zu Wort kommen, sorgt dafür, dass man Situationen und vor allem die handelnden oder erduldenden Menschen plötzlich ganz anders wahrnimmt. Diese unterschiedlichen Perspektiven zeigen die Begrenzung der Welt auf das eigene Ich: Die eigenen Schranken in der Wahrnehmung kann niemand überwinden, man sieht alle anderen nun mal nur von außen und ist darauf angewiesen, ihr Verhalten zu interpretieren. „Carambole“ zeigt, wie oft man damit falsch liegt, denn keine der Figuren ist so, wie sie auf den ersten Blick scheint. Jede Figur hat ein unerwartetes Leben, ein Geheimnis oder einfach Wünsche und Hoffnungen, die er mit niemandem teilt. Besonders deutlich wird dies im letzten Kapitel, in dem die Erzählperspektive mehrfach wechselt und wie ein Staffelholz von einer zentralen Figur zur nächsten gegeben wird: Wer einen Satz vorher noch von außen betrachtet und geschildert wurde, gibt im nächsten Satz schon Einblicke in die eigene Gedanken- und Gefühlswelt.
„Carambole“ ist der zweite Roman von Jens Steiner, der hierfür bereits mit dem Preis „Das zweite Buch“ der Dienemann-Stiftung ausgezeichnet wurde und aktuell auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2013 steht.
Ein sehr lesenswertes Buch, das sich vor allem durch die absolut authentische Schilderung der Figuren und ihrer eingeschränkten Wahrnehmung der Welt auszeichnet.