Es sind die Beziehungen, die man zu anderen Menschen hat, die einen prägen, und die Erinnerungen an Ereignisse, die für einen das Leben verändert haben. Für Matthias bedeuten Beziehungen zu anderen Menschen vor allem Probleme: Sein Bruder Carsten lebt in einem Pflegeheim, weil er geistig behindert ist, seine Mutter ist an Krebs erkrankt und der Aufgabe, beiden Söhnen gerecht zu werden, in keinster Weise gewachsen, und sein Vater hat die Familie verlassen, weil er mit der Situation icht zurecht kam. Dass Matthias es war, der Carsten während einer harmlosen Rauferei vom Bett gestoßen hat, so dass der Bruder unglücklich fiel und sein Gehirn dauerhaft verletzt wurde, macht die Konstellation natürlich nicht einfacher.
Ende der 1960er Jahre, als Matthias 12 Jahre alt ist, fährt er gemeinsam mit seiner Mutter nach Sylt, wo sein Bruder zu diesem Zeitpunkt gepflegt wird. Für Matthias ist diese Reise eine emotionale Achterbahnfahrt – einerseits hat er Schuldgefühle, andererseits ist er auch wütend auf seinen Bruder, der für ihn nicht mehr als Bruder da ist, obwohl er dringend einen bräuchte. Einen Lichtblick gibt es jedoch auf Sylt: Wo Ferienstimmung und Pubertät zusammen kommen, ist die erste Liebe natürlich nicht weit. Matthias ist hin und weg von Marta, die ein Praktikum in dem Heim macht, in dem Carsten untergebracht ist. Marta ist zwar gut fünf Jahre älter als Matthias, doch ist sie immer offen und verständnisvoll dem 12jährigen gegenüber und lässt sich auf einer Party sogar zu einem Kuss hinreißen. Doch natürlich findet Matthias hier nur einen Sommer-Flirt, und sehr schnell holt ihn auch das eigene Leben wieder ein, das mit all seinen Schwierigkeiten und traurigen Wendungen Matthias in die Rolle des Reagierers drängt.
Das Lächeln der Alligatoren: Gesellschaftliche wird zur persönlichen Geschichte
Zehn Jahre später hat Matthias sein Leben in geregeltere Bahnen gelenkt bzw. lenken lassen. Nach dem Tod seiner Mutter hat sein Onkel das Sorgerecht für den Jungen übernommen und Matthias hat den erfolgreichen Arzt und Hirnforscher als seinen neuen Vater akzeptiert. Durch die Erfahrungen, die er mit seinem Bruder und bei seinem Onkel gemacht hat, entschließt er sich, Informationstechnik mit dem Schwerpunkt Künstliche Intelligenz zu studieren, ein Themengebiet, das ihn mit seinen lebenslangen Gedanken über Gehirn, Funktion, Bewusstsein, Intelligenz und Kommunikation verbindet. In einer Vorlesung trifft er zufällig und natürlich völlig unerwartet auf Marta, die ihn auch nach so vielen Jahren immer noch fasziniert. Sehr schnell nimmt Marta ihn in ihren Kreis auf, und dass diese Gruppe ihren politischen Willen nicht nur durch Demonstrationen kundtut, wird zwar nie ausgesprochen, klingt unterschwellig aber immer wieder an. Was Marta genau vorhat, weiß Matthias natürlich nicht, doch ihn verbindet große Loyalität zur ersten Person, die ihn einmal in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit gerückt hat.
Auch wenn die Geschichte um die wiedergefundene Jugendliebe Marta es im ersten Moment so erscheinen lässt, ist Das Lächeln der Alligatoren keine Liebesgeschichte. Die Verliebtheit, die Matthias für Marta empfindet, ist nur der Auslöser, der ihn in ihre Nähe treibt. Seine Treue und Verbundenheit wird jedoch immer wieder auf eine harte Probe gestellt, da Marta sehr deutlich macht, dass sie in ihrem Leben ganz andere Prioritäten setzt.
Diese Beziehung zwischen den beiden wirft aber vor allem immer wieder das Thema Verantwortung auf. Matthias quält sich sein Leben lang mit der Frage, wie viel Schuld er tatsächlich am Zustand seines Bruders trägt, der für einen Zeitraum von zwei Wochen nach dem Unfall noch völlig gesund wirkte. Doch auch andere müssen sich ihrer persönlichen Verantwortung stellen: Matthias‘ Vater, der den einfachsten Weg für sich wählte und dadurch gleich beide Söhne verlor, und auch Matthias‘ Onkel, der seinem Neffen gegenüber stets ein vorbildlicher Mentor war, seine Vergangenheit aber auch nicht hinter sich lassen konnte.
Im Kern von Das Lächeln der Alligatoren steht außerdem die Gruppierung um Marta, die eine terroristische Vereinigung von Studenten ist, die sich im Recht fühlen, weil das, was sie erreichen wollen, richtig ist. Doch auch sie müssen sich mit Verantwortung und Schuld auseinandersetzen und können ihre Taten nicht mit einem einfachen „Der Zweck heiligt die Mittel“ legitimieren.
Das Lächeln der Alligatoren stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 und ist aus den fünf nominierten Büchern mein persönlicher Favorit. Die Tiefe und Breite der Geschichte, die unerwarteten Verbindungen zwischen Personen und Ereignissen und die Art, wie Hauptfigur Matthias zur Nebenrolle in seinem eigenen Leben gerät, hat mich stark an meine Lieblingsautoren Julian Barnes und David Mitchell erinnert und kenne ich bisher nur aus angelsächsischer Literatur. In wunderbarer Sprache geschrieben, die die Funktion kreisender Gedanken imitiert – immer wieder wird ein Satz in einen Satz in einen Satz geschoben – nimmt Michael Wildenhain seine Leser mit auf eine Reise in die deutsche Geschichte, die so persönlich ist wie sie nur sein kann.