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Das Ungeheuer (Terézia Mora)

von Yvonne
Cover "Das Ungeheuer" (Terézia Mora)

Cover „Das Ungeheuer“ (Terézia Mora)

Darius Kopp hat einen Punkt im Leben erreicht, von dem aus es nicht weiter nach unten geht. Dass er weder Job noch Wohnung hat, interessiert ihn dabei kaum noch, denn seit etwa einem Jahr lebt er in alles umfassender und besetzender Trauer um seine Frau Flora, die Liebe seines Lebens. Zuerst hatte sie ihn verlassen, nicht etwa, weil sie ihn nicht mehr liebte, sondern weil der einzige Ort, an dem sie es noch aushielt, eine Hütte am Waldrand war. Dann, als ihr auch dort keine Hoffnung auf Besserung blieb, erhängte sie sich an einem Baum im Wald, während Darius wenige Minuten entfernt im Auto saß und auf sie wartete.

Dass er ihr nicht helfen, keinen Halt bieten, sie aus der sie verzweifeln lassenden Situation zwischen Arbeitslosigkeit und Aushilfstätigkeiten herausbringen konnte, lässt ihn auch ein Jahr später nicht los, und seine Gefühle schwanken zwischen Hoffnungslosigkeit und auf alles und nichts gerichteter, grenzenloser Wut. Er scheitert an sämtlichen Alltagsaufgaben, verwahrlost zusehends und schafft es nicht einmal, zu entscheiden, was mit der Asche seiner Frau geschehen soll, obwohl der Bestatter ihm mittlerweile mit dem Gerichtsvollzieher droht.


 

Das Ungeheuer: Geschichte über Lebensüberdruss und Trauer

Sein bester Freund Juri, bei dem Darius – halb gegen seinen Willen – wohnt, hat es sich auf die Fahne geschrieben, den Freund wieder in die Gesellschaft zu „integrieren“, ob der nun will oder nicht. Ein geregelter Tagesablauf muss her, am besten auch ein Job, egal welcher. Juri organisiert ein Vorstellungsgespräch für eine Stelle, für die Darius überqualifiziert ist, die er aber dennoch nicht bekommt. Auf dem Nachhauseweg von dem demütigenden und entmutigenden Gespräch eskaliert eine völlig harmlose Situation mit einem Passanten, und Darius entlädt seine Wut, indem er den Mann zusammenschlägt. Auf der Polizeiwache diagnostiziert eine hinzugezogene Psychologin ihm eine mittelschwere Depression, doch bevor ihm jemand helfen kann, macht Darius sich aus dem Staub, um sich endlich darum zu kümmern, einen geeigneten Ort für Floras Asche zu finden. Sein Ziel: Ungarn, wo Flora lebte, bevor er sie kannte, und wo er hofft, Einblicke in das Leben der Frau zu finden, die er liebte und die ihn gleich doppelt verlassen hat.

Im Gepäck hat Darius Ausdrucke aller Dateien auf Floras Laptop, die er von einer Studentin aus dem Ungarischen hat übersetzen lassen. Diese Texte – Übersetzungen, Tagebucheinträge, niedergeschriebene Träume – geben Darius ein ganz neues Bild seiner Frau, der er so gerne geholfen hätte. Abweisung, Verlust der Mutter, berufliche und private Fehlschläge, das Gefühl der ewig Fremden sowohl im Heimatdorf in Ungarn als auch in Studium und Beruf in Deutschland – bis zum Zeitpunkt, als sie Darius traf, bestand Floras Leben aus negativen Gefühlen. Die Depression, an der sie litt und der sie sich reflektiert und dennoch hilflos gegenüber sah, scheint da als ganz natürliche Folge eines Lebens unter Nicht-Wohlmeinenden.

 

Roman über das Ungeheuer Depression

„Das Ungeheuer“ ist ein intensiver und authentischer Roman über das Erleben und die Folgen einer Depression. Die Tagebucheinträge, die man als Leser genau so zu Gesicht bekommt wie Darius, zeigen eine Frau, die im Leben vor allem erfahren hat, nicht gewollt zu sein. Von der psychisch kranken Mutter, dem abwesenden Vater und der offen ablehnenden Großmutter war keine Hilfe zu erwarten, und dass ein Mensch, der als Kind so wenig Halt erfahren hat, als Erwachsener kein Vertrauen aufbauen kann, wundert überhaupt nicht. Später, in einem fremden Land, in dem die ungarische Herkunft ein Makel und eine Rechtfertigung zur Ausbeutung ist, gelingt ebenfalls keine Integration, stattdessen erfährt Flora hier immer wieder Nachteile auf Grund der Tatsache, dass sie kein Mann ist.

Auch Darius wird eine Depression diagnostiziert, doch er weigert sich, seine Trauer in eine Krankheit umdeuten zu lassen. Seine Verwirrung zeigt sich auch in einer ganz besonderen Erzählperspektive, die sich nicht auf eine Sichtweise festlegt. Teilweise wechselt Terézia Mora innerhalb eines Satzes zwischen 1., 3. und sogar 2. Person, was einen anfangs irritiert und zeitweise hilflos-überfordert wie den Protagonisten zurücklässt.

Die beiden Erzählstränge, die „Das Ungeheuer“ umfasst – Darius‘ Trauer und Floras Tagebücher – trennen das Buch auch optisch: Die obere Hälfte einer jeden Seite ist der Reise von Darius gewidmet, die untere den Dateien vom Rechner seiner toten Frau. So kommt es, dass man, während man sich gleichzeitig mit Darius den bewegenden Aufzeichnungen seiner Frau widmet, im oberen Bereich des Buchs das Leben des eigentlichen Protagonisten vorbeiziehen sieht, bis man wieder an den Ausgangspunkt der Verzweigung zurückkehrt und weitermacht – ebenfalls wie Darius. Diese Art des Spiels mit der Linearität einer Erzählung und mit inhaltlichen Elementen, die sich im Satz und Druck eines Romans wiederfindet, gibt es immer häufiger, wie beispielsweise in „Das Haus – House of Leaves“ von Mark Z. Danielewski oder – letztes Jahr auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012 – „Indigo“ von Clemens J. Setz. Im Grunde greifen diese Romane damit nur ein mittlerweile erlerntes, nicht-lineares Leseverhalten auf, das man vor allem aus dem Internet kennt, wo man von Link zu Link springt, sich von einem Text zum anderen treiben lässt und wieder zurückkehrt. Dieser Trend wird sich meiner Meinung nach fortsetzen, auch wenn es besondere Kreativität erfordert, diese Form des Lesens im Roman umzusetzen. In „Das Ungeheuer“ ist dies besonders gut gelungen, und der liebevoll gesetzte Roman verfügt sogar über zwei Lesebändchen – eins für Darius‘, eins für Floras Geschichte.

„Das Ungeheuer“ bildet den mittleren Teil einer Trilogie über Darius Kopp, dessen berufliche Laufbahn im Kapitalismus das Zentrum des ersten Teils „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ bildet. „Das Ungeheuer“ befasst sich stärker mit der Beziehung zu seiner Frau und mit Floras Innenleben – und schafft es mit beidem, einen in den Bann zu ziehen und aufs Äußerste zu berühren.

Völlig zu Recht hat „Das Ungeheuer“ den Deutschen Buchpreis 2013 gewonnen. Da der Roman eins der besten Bücher ist, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, empfehle ich ihn nicht nur ausdrücklich, sondern freue mich sehr, dass er – verdient – gewonnen hat.

Infos zum Buch

Das Ungeheuer
Terézia Mora
688 Seiten
Erstausgabe 2013


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