Manchmal reicht ein Satz, um einen nicht nur in eine Geschichte, sondern in eine andere Welt zu ziehen, die man nicht mehr verlassen will, bis man das Ende der Erzählung kennt. Und wenn man Glück hat, hält das ganze Buch das Versprechen, das sein Anfang gibt.
Bei „Der Atem der Welt“ von Carol Birch sind es zwei Sätze, die gleich zu Beginn erahnen lassen, auf welche abenteuerlichen Reisen das Buch seine Leser mitnehmen wird: „Ich wurde zweimal geboren. Das erste Mal in einem Zimmer aus Holz, das über das schwarze Wasser der Themse ragte; das zweite Mal acht Jahre später auf dem Ratcliffe Highway, als der Tiger mich in sein Maul nahm und eigentlich alles erst richtig begann.“
Eine Begegnung, die das Leben verändert
Jaffy Brown, Erzähler und Hauptfigur, wächst in Londons schlechteren Vierteln in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Dort begegnet er auf der Straße dem im Anfangssatz erwähnten Tiger, der aus Jamrachs exotischer Tierhandlung entlaufen ist. Naiv-neugierig und ziemlich furchtlos möchte er wissen, wie sich das Tier wohl anfühlt, und der Tiger reagiert – nun ja, wie ein Tiger. Jamrach, Verusacher des Vorfalls und gleichzeitig beherzt eingreifender Retter, ist beeindruckt vom Mut des Achtjährigen und bietet ihm eine Arbeit in seinem Geschäft an. Diese Begegnung ändert alles für Jaffy – er lernt lesen und schreiben, trifft seinen besten Freund Tim und dessen Schwester Ishbel, in die er sich natürlich später verlieben wird. Vor allem aber lernt er Dan Rymer kennen, der im Auftrag reicher Exzentriker in aller Welt exotische Tiere fängt und nach England bringt.
Jagd nach Walen und Drachen
Die Kindheit fällt kurz aus; aus Jaffy wird sehr bald Jaf, und Gerüchte über einen Drachen, der irgendwo auf einer Insel im Indischen Ozean gesehen worden sein soll, bringen eine neue Mission für Dan Rymer. Auf einem Walfänger geht es Richtung Asien, und Tim und Jaf lassen sich gerne anheuern. Jaf, gerade mal fünfzehn, glaubt, seinen Platz im Leben auf dem Schiff gefunden zu haben. Der Walfang läuft gut, und selbst den „Drachen“ (den Waran) kann man viel leichter fangen als gedacht. Doch nachdem das Tier an Bord ist, verlässt die Mannschaft das Glück. Ein Tornado trifft das Schiff, und nur zwölf Seeleute überleben. Wochenlang treiben sie im Pazifik umher, in der Hoffnung, einem anderen Walfänger zu begegnen oder aber nach Südamerika zu gelangen, doch die Reise dauert länger als alle erwarten.
Ein bisschen Charles Dickens, ein bisschen Herman Melville
„Der Atem der Welt“ist das erste Buch, das ich von der Man Booker Prize Shortlist 2011 gelesen habe (unter seinem Originaltitel „Jamrach’s Menagerie“). Der Anfangssatz war der Grund für meine Wahl, und ich bin bis zum Schluss nicht enttäuscht worden. Der Roman ist wunderschön geschrieben, und Jaffys Sprache ändert sich, während er älter wird, spürbar. Während man in den ersten Kapiteln einem staunenden Kind dabei zuhört, wie es die Welt um sich herum entdeckt, wirkt der Bericht über den Schiffbruch, der den Hauptteil des Buchs bildet, erwachsener und vor allem melancholischer. Obwohl es einige recht bekannte Bücher über das London des 19. Jahrhunderts und auch über den Walfang gibt, ist „Der Atem der Welt“ nicht ein bloßes Zitat von Dickens und Melville, sondern in erster Linie eine Geschichte über eine unglücklich verlaufende Seefahrt. Vor allem unter den wenigen – und weniger werdenden – überlebenden Schiffbrüchigen gibt es einige schockierende Momenten, die auch dafür sorgen, dass man „Der Atem der Welt“ nicht so schnell vergisst. Darüber hinaus liest man eigentlich nicht ein Buch, sondern gleich drei:
Entwicklungsroman, Seefahrer-Abenteuer und eine Geschichte über Freundschaft. Und irgendwann im letzten Drittel musste ich nicht nur ein paar Tränen verdrücken, sondern ganze Wintervorräte an Taschentüchern aufbrauchen.
Infos zum Buch
Der Atem der Welt
(Jamrach’s Menagerie)
Carol Birch
400 Seiten
Erstausgabe 2011 (dt. 2012)
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