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„Als wäre das ganze Leben unlebbar“

von Yvonne

Thule ist ein bisschen wie Atlantis, nur weniger berühmt. Als Insel am nördlichen Rand der Welt gelegen weiß man heute nicht mehr so genau, wo Thule gewesen sein soll, und bereits im Mittelalter erhielt Thule die mythische Bedeutung des Endes der Welt.

In Nis-Momme Stockmanns Debütroman Der Fuchs ist Thule eine nordfriesische Kleinstadt und auf den ersten Blick alles andere als mythisch: Hier lebt in den 1990ern der zehnjährige Finn Schliemann mit seiner Mutter und seinem geistig behinderten Bruder und verbringt die Zeit mit seinen Freunden oft auf Erkundungstour am Deich. Seine Tage vergehen zwischen Abenteuern mit den Freunden, Angst vor den Baschis, Schläger-Brüdern aus dem Ort, und hin und wieder aufblitzenden Erinnerungen an den Selbstmord des Vaters. Für Finn ist klar: Etwas Großes kann er in Thule nicht erwarten.

Doch das ändert sich, als er Katja kennenlernt, die weltgewandt und viel erwachsener wirkt, als es ihrem Alter entspricht. Katja schafft es nicht nur, die Baschi-Brüder im Zaum zu halten, sondern sie zeigt Finn eine völlig andere Welt, die der Müllsammler Petros Stück für Stück aus dem Thuler Strand ausgräbt.

Es ist schwierig, in dieser heiligen Atmosphäre die richtigen Worte zu sagen.
Ich versuche es erst gar nicht. Moment. Doch: Ich habe etwas gesagt.
Ich spüre den Worten nach, ihrem Nachklang im Weltall. Ihren Verästelungen, die mich – ohne dass ich es geahnt habe – an diese Schwelle geführt haben. Die ich übertreten habe, indem ich meinen Mund öffne und die drei Worte spreche, die jetzt unwiderruflich gesprochen, Wirklichkeit geworden sind alles ändern wollen.
Und Katja antwortet ganz einfach: „Ich liebe dich auch.“

Der Fuchs: Post-Apokalypse, Entwicklungsroman, Fantasy-Geschichte

Dass Thule keine rosigen Zeiten vor sich haben wird, ist bereits zu Beginn des Romans klar, denn Der Fuchs fängt da an, wo die Zeit aufhört: Kurz vorm Untergang Thules, das vom Meer überflutet wurde. Finn, mittlerweile Anfang 30, hat sich mit seinem Jugendfreund Dogge und dessen Freundin aufs Dach gerettet, wo es ein paar Dosen Bier und eine Schrotflinte gibt. In dieser aussichtslosesten aller Situationen erinnert Finn sich an Katja und ihre gemeinsame Zeit, an die Entdeckungen, die sie gemeinsam gemacht haben, und an eine unheimliche Mordserie in Thule, die die Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg wegdiskutierte.

Ich frage mich, ob ich, wenn ich in der Vergangenheit etwas anders gemacht hätte, mich anders verhalten hätte, etwas am Lauf der Dinge hätte ändern können. Dann gibt es einen kurzen Schmerz. Als wäre das ganze Leben unlebbar.

Eine der großen Fragen, um die Der Fuchs sich dreht, ist die Frage nach den Weggabelungen im Leben, an die kleinen Entscheidungen, die das eigene Fortschreiten für immer festlegen und eine Vielzahl an ungelebten Leben und nicht ausgeschöpften Möglichkeiten zurücklassen.

Auch wusste ich plötzlich – und das jagte mir einen unendlichen Schrecken ein – nicht mehr, wofür ich mich eigentlich so abgekämpft hatte in der Vergangenheit. So bemüht und gequält. Worunter ich so gelitten hatte. Wie war ich hierhergekommen? Ich meine nicht auf das Dach – sondern an diesen spezifischen Zeitpunkt meiner Geschichte. War es das, was ich wollte? Stand das in Aussicht? Vor zehn Jahren? Vor fünf Jahren? Vor einem Jahr? Hatte ich mich dafür so bemüht? Wollte ich das? Oder wer? Wie war ich das geworden, was ich geworden war – und hätte es einen anderen Weg gegeben?

Ich habe Der Fuchs vom ersten Moment an fasziniert und immer wieder überrascht  regelrecht verschlungen. Die Rahmenhandlung über die dem (Welt-)Untergang geweihte Stadt Thule schlägt einen für sich schon in den Bann, doch seine wahre Größe findet man erst nach und nach, denn mit jedem weiteren Kapitel gräbt man sich tiefer in die Geschichte ein wie der Müllsammler Petros in den Boden Thules und liest plötzlich sogar in verschiedenen Zeitebenen quasi parallel. Es wird geheimnisvoll-fantastisch, philosophisch oder einfach nur melancholisch – in jedem Fall aber bewegt Der Fuchs  seine Leser emotional und intellektuell und fordert heraus zum selbst denken und selbst hinterfragen. Die oft gehörte Aussage, dass ein einzelner nichts ändern kann, wird entlarvt als das, was sie ist, eine Ausrede der Bequemlichkeit.

Fatalismus ist wie Urlaub.

Denn hinter dem Roman über Thule, der Gödel ebenso selbstverständlich zitiert wie Michael Jackson, tut sich ein ganzes Universum auf, in dem nichts so ist, wie es scheint. Klar ist nur, dass niemand so richtig hinter den Vorhang aus Alltag, Pop und Kapitalismus blicken will, weil das nur mit Schmerzen  verbunden wäre.

Wenn es ihn gibt – Gott – und er uns wirklich nach seinem Ebenbild erschaffen hat, dann ist das Projekt hier für ihn und uns gleichermaßen beschämend.

Nis-Momme Stockmann hat bisher fast ausschließlich Theaterstücke geschrieben, nun aber einen zweifellos fantastischen Debüt-Roman vorgelegt. Der Fuchs ist völlig zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse 2016 nominiert und ich werde ihm bis heute um 16 Uhr definitiv die Daumen drücken.

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