2007 ließ Thomas Glavinic in seinem Roman Das bin doch ich zum ersten Mal sein Alter Ego, den Schriftsteller mit demselben Namen und demselben Roman, auf die Literaturwelt los.
Dieser fiktionalisierte Thomas Glavinic hatte gerade seinen Roman Die Arbeit der Nacht beendet und hoffte – vergeblich – auf eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis. In Der Jonas-Komplex muss Glavinic ihn nicht mal benennen, nur aus seiner Perspektive erzählen, und man erkennt ihn gleich.
Der erhoffte Erfolg ist mittlerweile eingetreten, was dem Erzähler nicht unbedingt gut getan hat. Die Tage verbringt er mit Alkohol und Kokain und ständig wechselnden Frauen, das einzige, was er im Leben wirklich liebt, ist sein Kind, das er auch nur so nennt.
Ich bin ständig pleite, dafür hat mein Dealer einen Porsche in der Garage.
Zwischen wilden Partys, nach denen er auch schon mal nicht mehr weiß, in welcher Stadt er gerade aufwacht oder wie viele Tage er durchgefeiert hat, arbeitet er an einem neuen Roman und versucht immer wieder, aus dem Alkohol-Kokain-Zusammenbruch-Kreislauf herauszukommen – mit wenig Erfolg.
Ich bin kein Dummkopf. Genau hier müsste mein Bewusstsein einschreiten und nein sagen. Aber Bewusstsein gegen Unbewusstes ist wie Bambi gegen Godzilla. Wir sind naiv, wenn wir denken, wir träfen freie Entscheidungen. Das Unbewusste trifft sie eine Sekunde, bevor wir glauben, uns soeben bewusst und frei entschieden zu haben.
Zum Schrifsteller-Alter Ego gesellt sich bald ein weiterer alter Bekannter: Jonas, der Held des Glavinic-Romans Das größere Wunder, der nach erfolgreicher Mount Everest-Besteigung nun weitere Herausforderungen sucht. Von seinem japanischen Anwalt lässt der Multi-Millionär sich „in der Welt verstecken“ – betäuben und ohne große Ausrüstung allein an einen unbekannten Ort bringen, von dem er ohne Hilfe wieder fortkommen muss.
Jonas‘ Freundin Marie überredet ihn unterdessen, gemeinsam eine Südpol-Expedition zu starten. Eine richtige, zu Fuß, nicht mit Flugzeug und Kreuzfahrtschiff. Und auch wenn Jonas davon überzeugt ist, dass nicht beide vom Südpol zurückkehren werden, kann er der Frau, die er liebt, nicht wirklich etwas ausschlagen.
Verlieben ist leicht. Lieben ist eine Entscheidung.
Der Jonas-Komplex: drei Personen, die jeder von uns ist
Eine dritte Figur ergänzt den Reigen: Ein Dreizehnjähriger, der in der weiteren Familie herumgereicht wird, weil sich keiner wirklich um ihn kümmern möchte, und bei einer Frau landet, die er Uriella nennt. Diese Katastrophe von einer Ziehmutter ist dem Alkohol ähnlich zugetan wie der Schriftsteller, bringt gerne wechselnde Männer mit nach Hause und erfreut sich sichtlich an den körperlichen Reaktionen ihres Schützlings während ihrer gründlichen „Filzlaus-Untersuchung“.
Dennoch schafft dieser 13jährige es, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf seiner Herkunft zu ziehen. Dabei helfen ihm sein Talent fürs Schachspiel, seine Liebe zur Literatur und ein bisschen auch sein Status als Sonderling. Denn alles, was er an Nähe zu anderen Menschen verpasst, bringt ihn dazu, mehr auf sich selbst zu vertrauen und sich um sich selbst zu kümmern – so dass es zumindest einer tut.
Das ist es, denke ich auf dem Bett, mein Milchbrot kauend. Sie sehen andere Dinge als ich. Nicht nur Werte oder so was, das meine ich gar nicht. Oder nicht nur. Sie sehen Bleistifte und Kugelschreiber und Hefte, wo ich überhaupt nichts wahrnehme. Ich sehe einen Buchrücken, wo ihr Blick nicht verweilt.
Die drei beschriebenen Lebenswege ähneln einander in Details, in Namen und Orten und lesen sich wie drei Varianten ungelebten Lebens derselben Person. Dass diese Person Thomas Glavinic heißt, ist ganz offensichtlich, und viele Schriftsteller bedienen sich literarisch an den Möglichkeiten, die das eigene Leben hätten werden können.
Keiner jedoch macht das so konsequent, so elaboriert und so wunderbar geschrieben wie Glavinic, und es ist absolut kein Wunder, dass Kritiker und Leser ihn gleichermaßen lieben und bewundern. Der Jonas-Komplex ist spannend und mitreißend von der ersten bis zur letzten Zeile, gleichzeitig steckt der Roman voller treffgenauer Beobachtungen, die man selbst hätte machen wollen und sollen, aber eben nicht gemacht hat.
Die meisten Leute denken mit einem fremden Kopf, nicht mit dem eigenen. Das macht die Welt nicht unbedingt besser.
Das gesamte Jahr 2015 umfasst Der Jonas-Komplex, und damit ist der Roman nicht nur ein dreifaches Psychogramm, sondern auch eine sehr treffende Analyse unserer Zeit – von Flüchtlingskrise über Grexit und Terror bis hin zur durch Social Media geförderten Beziehungsunfähigkeit.
Ohne SMS und Facebook hätten wir uns entweder aus den Augen verloren oder doch gegenseitig besucht.
Schon lange habe ich ein Buch nicht mehr so verschlungen wie Der Jonas-Komplex, was an Handlung, Schreibstil und überall zu entdeckenden Ähnlichkeiten der verschiedenen Handlungsstränge liegt. Schade, dass auch dieser Roman nicht für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.
Wer wir sind, wissen wir nicht. Beim letzten Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt, und drittens die, für die ihn die anderen halten sollen.