Unser Buchclub hat in der letzten Zeit ganz klare Vorlieben für Fantasy und Science Fiction entwickelt. Nachdem wir beim letzten Treffen Anfang des Jahres „Der Golem“ von Gustav Meyrink besprochen hatten, war dieses Mal „Die andere Seite“ von Alfred Kubin Thema. Was wir nicht wussten: Gustav Meyrink kannte unsere aktuelle Lektüre nicht nur, Alfred Kubins Buch hat ihn außerdem beeinflusst. Auch Franz Kafka war „Die andere Seite“ bekannt; Kubin und Kafka sind sich sogar einmal in Prag begegnet. Von Kubin selbst hatte ich vor der Auswahl der Buchclub-Lektüre noch nie etwas gehört, bin aber froh, dass diese Lücke nun geschlossen ist.
Phantastische Geschichte mit autobiographischen Zügen
Eigentlich war Alfred Kubin Zeichner. Unter anderem hat er Werke von Edgar Allan Poe illustriert. „Die andere Seite“ blieb sein einziger Roman, den er 1908 innerhalb von drei Monaten verfasste. Der Ich-Erzähler des Romans erhält aus heiterem Himmel eine Einladung seines ehemaligen Schulkameraden Claus Patera, der zu einigem Wohlstand gelangt ist und sich den Traum eines eigenen Staates erfüllt hat. In diesen Staat – das Traumreich – erhält man nur auf persönliche Einladung Pateras hin Einlass. Der Erzähler ist zunächst skeptisch, doch ein „Reisekostenvorschuss“ in beträchtlicher Höhe hilft dabei, ihn umzustimmen. Nun muss nur noch die Ehefrau überzeugt werden, und die Reise kann beginnen.
Doch schon unterwegs kommen erste Zweifel auf, und als das Gepäck der beiden vor Betreten der neuen Heimat durchsucht wird – im Traumreich sind ausschließlich gebrauchte Gegenstände zugelassen – ahnt der Erzähler Schlimmes.
Vom Traumstaat zum Alptraum
Die Befürchtungen sind nicht unbegründet. Dass keine neuen Gegenstände mit ins Traumreich gebracht werden dürfen, hat zur Folge, dass die Hauptstadt – euphemistisch Perle getauft – sich im ständigen Verfall befindet. Hieß es bei der Einladung noch, dass vor allem Menschen eines besonderen geistigen oder künstlerischen Schlags in Pateras Staat eingeladen werden, um sich dort ganz ihrer Kunst zu widmen, unterscheidet sich nach der Ankunft zunächst nicht viel vom Alltag daheim: Der Erzähler sucht sich wieder eine Arbeit als Illustrator, und das Geld ist oft schneller ausgegeben als verdient. Und die „besonderen Menschen“ sind in erster Linie solche, die psychisch eher labil sind.
Dass die vielleicht etwas hohen Erwartungen enttäuscht wurden, ist natürlich ärgerlich. Wirklichen Grund zur Besorgnis bringen aber andere Geschehnisse: Menschen sehen plötzlich nicht mehr aus wie am Tag vorher, eine Uhr in der Stadtmitte zieht alle Bewohner – auch den Erzähler – in ihren Bann, und Fragen sollte man besser keine stellen. Der Erzähler will sich all das nicht bieten lassen, schließlich ist er gemeinsam mit Patera zur Schule gegangen. Und so versucht er, eine Audienz in seinem Schloss zu erhalten. Doch lange scheitert er an der dortigen Bürokratie, die unter anderem die Geburtsurkunde des Schwiegervaters verlangt, bevor überhaupt an einen Termin beim Herrscher des Traumstaats zu denken ist. Als dann ein Amerikaner einwandert, der Patera den Kampf ansagt, steht das Traumreich endgültig vor dem Ende.
Sprachgewaltiger, aber unzuverlässiger Erzähler
Viele Motive spielen in „Die andere Seite“ eine Rolle: Ein Staat, der aus den Allmachtsphantasien eines Neureichen entsteht, die materiellen Verlockungen, die den Erzähler dazu bringen, sich auf ein unbekanntes Wagnis einzulassen, der Kampf zwischen Patera und dem Amerikaner. All dies findet vor einem phantastischen Hintergrund statt, und die Erlebnisse, die der möglicherweise nicht ganz zuverlässige Erzähler schildert, werden so plastisch beschrieben, dass man die Bilder sofort vor Augen hat. Die Deutung, was auf phantastische Kräfte Pateras zurückgeht und was der Phantasie oder möglicherweise dem Wahn des Erzählers entspringt, bleibt dem Leser überlassen. Obwohl jedoch manche Frage unbeantwortet bleibt, ist „Die andere Seite“ ein erstaunlich modernes und sehr unterhaltsames Buch, das vor allem in den Schilderungen der phantastischen Elemente besondere Stärken hat.
Infos zum Buch
Die andere Seite
Alfred Kubin
248 Seiten
Erstausgabe 1909
[footer]