Ein bisschen beginnt Frank Witzels 800-Seiten-Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 wie eine ganz gewöhnliche, wenn auch teils absurde Coming-of-Age-Geschichte: Der (Ich-)Erzähler, der die gesamten 98 Kapitel über namenlos bleiben wird, erinnert sich, wie er mit zwei Freunden – Claudia und Bernd – in einem gestohlenen Auto auf der Flucht vor der Polizei ist – im Handschuhfach eine Wasserpistole, die um die Ecke schießen kann, und weitere Scherzartikel, die auf das Alter des Erzählers schließen lassen. Der Noch-nicht-ganz-Teenager ist nämlich gerade mal 12, hat zu Hause Probleme, seit seine Mutter halbseitig gelähmt ist und eine Frau von der Caritas ihre Rolle einnimmt.
Der Vater, ein Fabrikant, schaut argwöhnisch auf seinen ältesten Zögling und wäre ihn lieber heute als morgen los – zumindest ist es das, was der Teenager in das Verhalten des Vaters interpretiert. Zwischen regelmäßiger Beichte, Messdienst, Pfadfinderlager und Fernsehverbot schmieden die Jugendlichen Pläne, wie sie sich von der Vergangenheit emanzipieren können und gründen dabei eine geheime Gruppierung, eine Art Club, den sie Rote Armee Fraktion 1913 nennen. Die überbordende Phantasie des Teenagers lässt dabei vermuten, dass manche der Überfälle, Entführungen und Spionage-Affären nicht zu 100% die Realität widerspiegeln. Was jedoch tatsächlich passiert, ist, dass der Teenager völlig überfordert und – sicher begünstigt durch die schwierige familiäre Situation – in ein Sanatorium eingeliefert wird, wo der Psychologe Dr. Märklin und Pfarrer Fleischmann sich um seine Seele und ihre jeweilige Interpretation derselben streiten.
Die Geschichte des Teenagers, seiner Freunde und der beiden Frauen / Mädchen in seinem Leben ist jedoch nur der Hauptfaden des großen Wollknäuels mit dem Titel Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Ganz postmodern hält Autor Witzel sich nicht an Chronologien, lässt den Teenager als Erwachsenen auf seine Jugend zurückschauen, an einem Interview bzw. Verhör teilnehmen und in einem Theaterstück (frei nach Peter Weiss) auftreten. Dazwischen findet man Tagebuch-Einträge, Dialoge, Fragebögen, Aphorismen, philosophische Abhandlungen und – in einer Szene, die im Konvikt spielt, das dem Teenager nach seinem Aufenthalt im Sanatorium zum Seelenheil verhelfen soll – eine völlig logisch anmutende (und gerade darum besonders absurde) christliche Exegese des Beatles-Album Rubber Soul, in der jede Liebesgeschichte zum Bekenntnis zu Jesus uminterpretiert wird.
Die Erfindung der Roten Armee Fraktion: Zwischen überbordender Phantasie und trauriger Realität
Jedes einzelne Kapitel dieses zugegebenermaßen recht langen Roman lässt einen staunend und mit offenem Mund zurück, weil man so etwas noch nie gelesen hat. Jeder Absatz bringt einem neue Einsichten, jeder Satz trifft den Kern und jedes Wort passt genau. Neben der sprachlichen Virtuosität, die Die Erfindung der Roten Armee Fraktion auszeichnet, sind es die philosophischen Zusammenhänge, die einen immer wieder in den Bann ziehen und an dieses Werk fesseln. Der Existentialismus zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman, Levinas‘ Konzept des Anderen wird – aus einer anderen Ecke kommend, aber dennoch zutreffend – so spielerisch erklärt, dass man nicht anders kann, als es zu verinnerlichen und Horkheimer und Adorno stehen Pate für jede der tiefgehenden moralischen Fragen, die das Buch berührt.
Doch auch an Politik und Geschichte knüpft das Netz der Fäden – natürlich – an, und Witzel setzt sich intensiv mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander, die nie richtig beendet wurde, sondern in Form von Menschen, Straßennamen, Sprache und Gesetzen einfach in die Nachkriegszeit herüberschwappte – weil auch niemand versuchte, einen Damm zu bauen, der sie hätte aufhalten können. So wird die deutsche Geschichte nach dem Jahr 1945 zum konturlosen und kollektiven Gedächtnisverlust, auf dessen Boden die junge Bundesrepublik im Sommer 1969 selbst teilweise die Rolle eines manisch-depressiven Teenagers einnimmt, der durch seine Orientierungslosigkeit und die Unfähigkeit, erwachsen und damit ein Stück losgelöst von den eigenen Wurzen zu werden, die Entstehung der RAF erst möglich macht.
Das Manuskript zu Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 wurde bereits 2012 mit dem Robert-Gernhardt-Preis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet, nachdem Autor Witzel sich eigentlich schon dazu entschlossen hatte, den Roman nicht fertigzustellen. Dass er sich umentschied und dieses sperrige Werk mit dem sperrigen Titel doch noch zu Ende schrieb, ist ein großes Glück für alle Literatur-Liebhaber. Einen Roman wie diesen, der einem bei der Lektüre eine Menge abverlangt und noch weitaus mehr zurückgibt, gibt es sicher nur alle paar Jahre und ist vor allem für Fans der postmodernen „Klassiker“ wie Thomas Pynchon oder David Foster Wallace eine absolute Bereicherung.
Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 hat den Deutschen Buchpreis 2015 gewonnen – völlig zu Recht, wie ich finde.