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Der amerikanische Familien-Traum

von Yvonne

Marcus Goldman ist Schriftsteller, und um seinen nächsten Roman zu schreiben, zieht er sich nach Florida zurück, wo er Ruhe und Einsamkeit sucht. Sein liebenswürdiger Nachbar Leo, der sich ebenfalls als Schriftsteller versuchen will, lässt ihm jedoch keine Ruhe, und Marcus, der bisher nicht einmal ein Thema für sein neuestes Buch hat, gerät ins Grübeln über seine eigene Familiengeschichte.

Diese tritt dann auch noch in Gestalt eines Hunds auf den Plan – Duke gehört Alexandra, seiner Jugendliebe, zu der Marcus seit acht Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Alexandra, wie er mittlerweile reich und berühmt, wohnt aktuell mit ihrem Lebensgefährten in Marcus‘ unmittelbarer Nachbarschaft. Die unerwartete Begegnung mit ihr bringt Marcus einerseits, was er gesucht hat, andererseits auch etwas, was er vergessen wollte: ein Thema für seinen Roman und die Erinnerung an seine beiden Cousins, mit denen er einen großen Teil seiner Kindheit und Jugend verbracht hat.

Marcus versucht Stück für Stück das Puzzle der Geschichte der Familie seines Onkels – der Goldmans aus Baltimore im Gegensatz zu den Goldmans aus Montclair, oder kurz den Baltimores – zusammenzusetzen. Für ihn waren die Ferien und Feiertage bei den Baltimores wie Ausflüge ins Paradies. Anders als „die Montclairs“ hatten die Baltimores den amerikanischen Traum verwirklicht: Ein riesiges Anwesen in Baltimore, ein Haus in den Hamptons und eine Wohnung in Florida, allesamt mit dem Vermögen eingerichtet, das Onkel Saul als Staranwalt verdient hat.

Doch die Baltimores sind nicht nur unfassbar reich, sie sind auch wahnsinnig nett. Nicht nur, dass sie ihren Neffen zu jeder Gelegenheit aufnehmen, damit er mit seinem geliebten Cousin Hillel eine tolle Zeit verbringen können, sie haben außerdem auch noch Woody bei sich zu Hause aufgenommen, um dem Jungen aus dem Heim eine reelle Chance auf ein besseres Leben zu bieten. Woody und Hillel sind beste Freunde. Der stärkere Heim-Junge beschützt den schwächeren Hillel, und gemeinsam mit Marcus sind die drei die unzertrennliche Goldman-Gang.

Natürlich kann das Leben der drei nicht auf Dauer ohne Sorgen bleiben, und das Kennenlernen von Alexandra wirft einen ersten leichten Schatten auf die Freundschaft – denn alle drei verlieben sich gleichermaßen in sie. Doch der eigentliche Wendepunkt der gesamten Familiengeschichte, dem Dicker sich erzählerisch geschickt zeitlich von mehreren Seiten nähert, steht ihnen allen noch bevor.

Die Geschichte der Baltimores ist die Geschichte des amerikanischen Traums

Als mir im vierten Absatz des Romans klar wurde, dass auch dieser aus der Perspektive des Schriftstellers Marcus Goldman, der Hauptfigur aus Dickers letztem Erfolgs-Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert, erzählt ist, war ich irgendetwas zwischen misstrauisch und entsetzt. Ich konnte nicht fassen, dass Dicker das tatsächlich getan hatte: Das Erfolgskonzept seines Millionen-Bestsellers kopiert und einfach noch mal dasselbe versucht.

Nichtsdestotrotz habe ich die restlichen mehr als 500 Seiten in weniger als einem Tag durchgelesen, was selbst für meine Lese-Geschwindigkeit extrem schnell ist. Genau wie sein Vorgänger ist Die Geschichte der Baltimores ein Pageturner, den man nicht so schnell aus der Hand legt. Das und die Hauptfigur sind jedoch die einzigen Gemeinsamkeiten der beiden Romane.

Anders als Harry Quebert ist Die Geschichte der Baltimores kein Kriminalroman, auch wenn von der ersten Seite an die Katastrophe (eigentlich DIE KATASTROPHE) erwähnt wird, auf die die Familie unweigerlich zusteuert. Doch dieses schicksalhafte Ereignis, dass die Familie Goldman aus Baltimore unweigerlich treffen wird, hängt nicht direkt mit einem Kriminalfall zusammen, sondern mit den schwierigen und verwobenen sozialen Beziehungen innerhalb einer Familie.

Dicker schafft es wunderbar, die durch Eifersucht, mangelndes Selbstbewusstsein, Ehrgeiz und falschen Stolz entstehenden Missverständnisse zu beschreiben, die eine Familie in den Ruin treiben können. Und er treibt diese Missverständnisse wieder und wieder auf die Spitze, so dass man mehr als einmal das Gefühl hat, dass alles Unglück der Baltimores hätte verhindert werden können, wenn sie nur einmal miteinander gesprochen hätten. Inhaltlich bewegt sich dieser Roman also deutlich näher am Alltag seiner Leser, auch wenn die wenigsten ein Haus in den Hamptons und diverse Katastrophen in ihrer Familiengeschichte haben. Darüber hinaus ist der Roman eine berührende Geschichte über eine Freundschaft zwischen drei sehr ungleichen Jungen, die soziale Herkunft, Geld und Bildung trennt – was in den USA, wo der Roman spielt, natürlich doppelt trennend wirkt.

Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Romanen, ist, dass Die Geschichte der Baltimores leider etwas weniger Persönlichkeit hat als Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Ein bisschen wirkt es wirklich so, als hätte Dicker versucht, sein Erfolgsrezept zu kopieren, was aber nicht ganz geglückt ist. Denn Harry Quebert war nicht nur ein good read (ein very good read sogar), sondern nahbar, immer wieder überraschend und darüber hinaus inspirierend. Auch war Dickers voriger Roman sprachlich deutlich ansprechender, hatte mehr eigene Bilder und Wendungen und weniger, was man so oder so ähnlich schon mal gelesen hat.

Doch lässt man diese (vielleicht unfairen) Vergleiche beiseite, so bleibt, dass Die Geschichte der Baltimores eine absolut fesselnde, spannende und lesenswerte Familiengeschichte ist, die man nicht weglegen wird, bis man endlich weiß, was die große Familien-Katastrophe war – und wie es dazu kommen konnte. Und nach der Lektüre des Romans macht sich vor allem ein Gefühl breit: Optimismus. Denn die hoffnungsvolle Art, mit der die Figuren mit Schicksalsschlägen, ungerechter Behandlung und eigenen Fehlern umgehen, steckt am Ende dann doch an.Google

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