Holly Sykes fühlt 1984 das, was viele 15jährige fühlen: die Schule ist uninteressant, die Eltern verstehen sie nicht, aber das alles ist ohnehin nicht so wichtig, denn sie hat die große Liebe gefunden, den zehn Jahre älteren Vincent Costello. Als Hollys Eltern zufällig davon erfahren, reagieren sie, wie Eltern eben reagieren, wenn ein 25jähriger Gebrauchtwagenhändler ihre schulpflichtige Tochter verführt hat – sie verbieten ihr jeglichen Kontakt. Holly beschließt kurzerhand, dass die Zukunft auch sofort beginnen kann, packt ihre Sachen und reißt aus, um zu Vinny zu ziehen – jedoch nicht, ohne sich von ihrem geliebten jüngeren Bruder Jacko zu verabschieden.
Das böse Erwachen folgt bald: Holly überrascht Vincent, der gerade „Besuch“ von Hollys bis dahin bester Freundin hat. Zurück nach Hause, glaubt sie, kann sie nicht, also macht Holly sich auf den Weg, um sich alleine durchzuschlagen und irgendwo einen Job zu finden. Unterwegs trifft sie eine ältere Frau, die ihr Tee anbietet, den Holly, völlig unvorbereitet auf ihren langen Weg in ein erwachsenes Leben, dankbar annimmt. Im Gegenzug bittet sie Holly darum, ihr Asyl zu gewähren, sollte sie es einmal brauchen. Holly versteht zwar nicht wirklich, was die Frau will, willigt aber ein – und wird spätestens durch diese Einladung Teil eines großen, Jahrhunderte währenden Kriegs zwischen zwei Geheimbünden, die ihren jeweils ganz eigenen Weg zur Unsterblichkeit gefunden haben und um einzelne Seelen kämpfen. Dieser Kampf ist der Hintergrund zu Die Knochenuhren, der die einzelnen Fäden zusammenhält und die Geschichte vorantreibt – auf diesem Hintergrund spielen jedoch etliche andere Geschichten, die einen auf unterschiedlichste Art und Weise fesseln und berühren.
Über einen Zeitraum von sechzig Jahren folgt Die Knochenuhren Holly Sykes, in sechs Erzählungen, die aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert werden. In der ersten, aus Hollys Sicht erzählten, erfährt man nicht nur von Esther Little, der Frau mit dem Tee, sondern auch von Stimmen, die Holly als Kind gehört hat, und davon, dass ihr Bruder Jacko kurz nach Hollys Verschwinden ebenfalls von zu Hause ausreißt – ohne je wiederzukehren. Auch das letzte Kapitel erzählt Holly wieder selbst, dazwischen kommen andere zu Wort: Figuren, die in Hollys Leben eine wichtige Rolle spielen, erzählen ihre eigene Geschichte und durch die Berührungspunkte mit ihr auch Hollys – Hugo Lamb, mit dem sie eine Affäre hat, als sie Anfang 20 ist, ihr Ehemann, der egozentrische Schriftsteller Crispin Hershey, für den Holly zur wichtigsten Bezugsperson und zum Motor seines eigenen Wandels wird, sowie der Arzt / Psychologe Marinus, der bereits in Die tausend Herbste des Jacob de Zoet eine wichtige Rolle inne hatte. Jedes der sechs Kapitel lässt sich einem Roman-Genre zurechnen, vom initialen Coming-of-Age-Roman bis zur finalen Post-Apokalypse, auf die der gesamte Roman unweigerlich zusteuert. Nicht nur in dieser Hinsicht ähnelt Die Knochenuhren Mitchells wohl bekanntestem Roman Der Wolkenatlas. Hier wie dort befasst sich Mitchell unter anderem mit dem Thema Macht und den Auswirkungen sowohl auf die Gesellschaft und die Geschichte als auch auf machtvolle und machtlose Individuen. Immaculée Constantin, die durchaus mit Macht gesegnet ist, fasst es dem jungen und leicht beeinflussbaren Hugo Lamb wie folgt zusammen:
‚Power is lost or won, never created or destroyed. Power is a visitor to, not a possession of, those it empowers. The mad tend to crave it, many of the sane crave it, but the wise worry about its long-term side-effects. Power is crack-cocaine for your ego and battery-acid for your soul. Power’s comings and goings, from host to host, via war, marriage, ballot box, diktat and accident of birth, are the plot of history. The empowered may serve justice, remodel the Earth, transform lush nations into smoking battlefields and bring down skyscrapers, but power itself is amoral.‘
Die Knochenuhren: Macht, Liebe und Unsterblichkeit
Hugo Lamb, obwohl er nur in drei Kapiteln erwähnt wird und in zweien davon eine Nebenrolle spielt, ist ohnehin eine der beiden interessantesten Figuren des Romans, gerade weil er sich lange Zeit auf der Grenze zwischen Gut und Böse bewegt und jede seiner Entscheidungen in die eine oder andere Richtung absolut glaubwürdig ist. Die Geschichte, die er erzählt, spielt zu seiner Uni-Zeit: Hugo studiert in Cambridge und ist weitestgehend umgeben von jungen Männern aus bestem Hause. Um Geld muss sich kaum einer seiner Freunde Gedanken machen und das Studium dient eher dem Weitertragen eines gesellschaftlichen Erbes als der Vorbereitung auf Erwerbstätigkeit. Bei ihm ist es anders, seine Eltern kommen zurecht, können Hugo das Studium aber nicht finanzieren, geschweige denn ihm einen ausschweifenden Lebensstil ermöglichen. Hugo hilft sich selbst, indem er seine Kommilitonen geschickt manipuliert, seltene Briefmarken fälscht oder dubiose Geschäfte abwickelt. Seinen Pragmatismus stellt er jedoch selbst immer wieder in Frage.
The lines are simple enough: ‚Men have imagined republics and principalities that never really existed at all. Yet the way men live is so far removed from the way they ought to live that anyone who abandons what „is“ for what „should be“ pursues his downfall rather than his preservation; for a man who strives after goodness in all his acts is sure to come to ruin, since there are so many men who are not good.‘ For this plain-spoken pragmatism, Cardinal Pole denounced Niccolò Machiavelli as the devil’s apostle.
Etwas ähnliches wie Reue verspürt Hugo erst, als er Holly kennenlernt und sich in sie verliebt – ein für ihn ganz und gar neues Gefühl, von dem er auch nicht erwartet hat, dass es ihn je trifft. Und dennoch erkennt er es sofort und weiß, was es mit ihm tun wird, wenn er es zulässt.
This isn’t lust. Lust wants, does the obvious, and pads back into the forest. Love is greedier. Love wants round-the-clock care; protection; rings, vows, joint accounts; scented candles on birthdays; life insurance. Babies. Love’s a dictator. I know this, yet the blast furnace in my rib-cage roars You You You You You You just the same, and there’s bugger-all I can do about it.
Während Hugo sofort weiß, wie er für Holly fühlt, ist Holly – wohl auch auf Grund der Erfahrung mit Vincent Costello – noch für Jahrzehnte nicht bereit, sich wieder zu verlieben. Und sie ahnt auch nicht, was Hugo empfindet, da dieser spürt, dass es nicht gut wäre, ihr mitzuteilen, dass er sie liebt.
Experimentally, silently, I mouth, I love you, to Holly, who breathes like the sea. This time I whisper it, at about the violin’s volume: ‚I love you.‘ No one hears, no one sees, but the tree falls in the forest just the same.
So schön und bewegend diese kurze Liebesgeschichte ist, am Ende gewinnt Hugo Lambs Pragmatismus, siegt der Kopf über das Herz, und so wie er auch anderen gegenüber sehr überzeugend sein kann, setzt er sich selbst in den Kopf, dass die Gefühle, die er für Holly hat, nur vorübergehend sind und nicht wert, dafür sein Leben zu ändern und auf große Chancen zu verzichten.
But it’s the feeling of love we love; not the person.
It’s that giddy exhilaration I just experienced, just now.
The feeling of being chosen and desired and cared about.
It’s pretty pathetic when you examine it clear-headedly.
Genau die entgegengesetzte Entwicklung vollzieht der Schriftsteller Crispin Hershey. Als Wunderkind der Literatur hochgelobt und mit Erfolg verwöhnt kann er irgendwann nicht mehr Schritt halten mit seinen eigenen Vorgaben – seine Frau verlässt ihn, der neueste Roman fällt bei Kritik und Publikum durch, aus Reichtum werden Schulden und auf eine vernichtende Kritik reagiert er – nun ja, vernichtend (auch dies eine Parallele zum Wolkenatlas). Als er zufällig Holly kennenlernt, die ein Buch über die Stimmen, die sie als Kind gehört hat, und das Verschwinden ihres Bruders geschrieben hat und damit unzählige Bewunderer anzieht, schaut Crispin zunächst arrogant auf diese zweitrangige Autorin herab. Doch immer wieder kreuzen sich ihre Wege, und die beiden stützen sich, wo sie können, ohne jedoch je den letzten konsequenten Schritt zu tun.
They loved each other, I see, but both only half guessed it.
Doch auch ohne dass Holly und Crispin eine Beziehung eingehen, zeigt Crispins Wandlung, wie sehr der richtige Mensch zur richtigen Zeit Anlass und Katalysator für die eigene Entwicklung werden kann – aus dem selbstsüchtigen Literatur-Snob wird ein Mann, der sich um andere sorgt und der für seine Taten und Nicht-Taten die Verantwortung übernimmt.
Der Kampf der beiden Gruppen Unsterblicher findet zeitgleich statt mit dem Kampf um Ressourcen, der die Welt an den Rand des Zusammenbruchs treibt und – in den Kapiteln, die in der nicht so weit entfernten Zukunft angesiedelt sind – darüber hinaus. Auch hier befasst sich Die Knochenuhren mit einem wiederkehrenden Thema Mitchells: dem Technologie- und Fortschritt-Glauben der Menschheit, der dazu führt, dass jede Generation auf Kosten der folgenden ihren eigenen Wohlstand und ihre Bequemlichkeit maximiert. Dass die Basis, auf der all dies beruht, die Zivilisation, das wirtschaftliche Wachstum, die einem ein sorgenfreies Leben ermöglichen, aus sehr dünn gewebtem Stoff sind, zeigt der Zusammenbruch, zu dem es nach einer Klimakatastrophe kommt.
Civilisation’s like the economy, or Tinkerbell: if people stop believing it’s real, it dies.
Holly Sykes, die in ihrem Leben viele Leben berührt und gerettet hat, findet eine andere Form der Unsterblichkeit: Menschen, die sie liebt und die sie inspiriert hat.
We sort of live on, as long as there are people to live on in.
Über viele Jahre hinweg war Mitchells Buch Der Wolkenatlas für mich unerreicht und unerreichbar das beste Buch überhaupt, das es schafft, wirklich tiefe und wichtige gesellschaftliche und individuelle Themen mit einer sprachlichen Vielfalt und verschiedensten spannenden Geschichten zu vereinen wie kein anderes Buch. Die Knochenuhren erreicht für mich das gleiche: Der Roman ist sprachlich perfekt, jongliert mit verschiedensten Genres, hat differenzierte, nahbare Figuren, zu denen man sehr schnell eine Beziehung aufbaut, einen fesselnden Plot und ist sofort auf die Liste meiner Lieblingsbücher gewandert. Er ist ein gutes Stück fantastischer als die anderen Mitchell-Romane, was ihm aber keinerlei Abbruch tut. Mitchell- und Fantasy-Fans werden Die Knochenuhren gleichermaßen begeistert aufnehmen. Die Fantasy-Geschichte, die die Basis des Romans bildet, ist so geschickt komponiert und in vielen Details vorausgedeutet, dass man nach Beenden des Buches am liebsten gleich zurück zur ersten Seite blättern und wieder von vorne anfangen möchte.
Die Knochenuhren war 2014 für den Man Booker Prize nominiert (Longlist). 2015 wurde der Roman mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Er erscheint am 11. März 2016 auf Deutsch.